Rund um die Situation

Als Situationsdynamik (Kurzform SD) bezeichnet man zusammenfassend die Idee (einschließlich Theorie und Praxis) zur Gestaltung von Bildungs und Beratungsprozessen auf situationsdynamischer Basis.

Zur Situationsdynamik gehört also alles das, was der angewandten praktischen Bildungsarbeit der Situationsdynamik als theoretische Basis zugrunde liegt. So trägt das hier dargestellte Vier-Felder-Modell der Situation dazu bei, die theoretiegeleitete situationsdynamische Arbeit zu strukturieren.

Zum anderen ermöglicht dieses Modell der Situation eine didaktisch und methodisch fundierte - und zugleich flexible praktische Beobachtungs- und Interventions-Arbeit in den vier Aspekten der Situation.

Der "Ich" Aspekt der SituationDer "Sach" Aspekt der SituationDer "intentionale" Aspekt der SituationDer "Wir" Aspekt der SituationSituation  

Überblick

Im Verlauf der 1970er-Jahre entstand durch die Arbeit mehrerer kollegialer Gruppen, deren Mitglieder im unterschiedlichen Feldern der Bildungsarbeit tätig waren, unter anderem auch dieses Modell der Situation.

Es war zunächst nur eines von vielen Produkten der Auseinandersetzung zwischen Sozialwissenschaftlern, Pädagogen, Psychotherapeuten, Psychologen, Theologen und Organisationsberatern, Männern wie Frauen, teils noch im Studium, teils bereits beruflich etabliert, die sich damals mit ganz unterschiedlichen Interessen auf selbst organisierende Lernprozesse einließen, um aus ihren Erfahrungen Schlüsse für ihre berufliche und vor allem politische Arbeit ziehen zu können.

Diese Zeit und ihre Geschichten kenne ich persönlich allerdings nur noch aus den "Vorläufigen Texten" und Geschichten meiner älteren KollegInnen, die Ende der 1980er- und während der 1990er-Jahre teils amüsiert, teils fasziniert zurückblickten und feststellten, was sich aus den Experimenten ihrer Studienzeit und frühen Berufsjahre letztlich doch als deutlich sichtbar institutionalisierte und vielseitig praktikable Idee entwickelt hatte.

Das Ganze fing also Ende der 1970er-Jahre mit dem Beginn einer experimentierenden Bildungs-Praxis an, in der die Idee der Selbst- Organisation sozialer Systeme als Alternative zu vertrauten hierarchischen Organisationsformen in jahrelangen Prozessen zunächst praktisch erprobt und dann auch theoretisch gründlicher fundiert wurde.

Es war anscheinend charakteristisch für die Zeit dieser Vorläufer-Gruppen, dass sie nicht nur beruflich, sondern in alltäglich fortgesetzten kritisch lernenden und lehrenden Suchbewegungen lebten und dass sich diese Suchbewegungen auf alle, also in diesem Sinne all-täglichen Lebenswelten erstreckten. Das Nachdenken über das Phänomen Alltag und dessen mögliche Bedeutungen nahm im Nachdenken über Situationsdynamik (SD) immer mehr Raum ein.

Hierzu ein erster Exkurs in einen der vorläufigen Texte Anfang der 1990er-Jahre von Dr. Edgar Kösler:
"SD als sozialwissenschaftlich fundiertes Konzept hat vielfältige Wurzeln. Eine dieser Wurzeln ist eine Anfang der 1970er-Jahre einsetzende Auseinandersetzung mit den Strukturen und Wirkungen der modernen Industrie- Gesellschaft und der damit verbundenen Alltagsroutine. In diese Zeit fällt auch der Beginn der gruppendynamischen Bewegung in Deutschland mit ihren ebenfalls auf gesellschaftliche Veränderung (Demokratisierung) gerichteten Ansprüchen. Parallel dazu entstand in den Sozialwissenschaften die Diskussion über die zunehmende Kluft zwischen einer durch die Wissenschaft ‚künstlich geschaffene Wirklichkeit‘ und den alltäglichen Lebenszusammenhängen der Menschen. Es ging um die Verantwortung bzw. Praxisrelevanz der Sozialwissenschaften, d. h.die Hinwendung zu den alltäglichen Lebens- und Handlungszusammenhängen der Menschen; es entwickelten sich die Handlungs- Theorien (vgl. Klafki 1974, Heinze et al. 1975, Moser 1977). Das Phänomen ‚Alltag‘ wurde zu einer bedeutsamen Größe in der Entwicklung des Konzepts der Situationsdynamik: Alltag vollzieht sich in unterschiedlichen sozialen Konstellationen und unterschiedlichen sozialen Orten, z. B. in der Familie, in der Schule. Alltag ist geprägt durch die gesellschaftlichen Entwicklungen und die jeweiligen lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Hoffnungen der Menschen, die den Alltag interaktiv handelnd immer wieder herstellen."
"Vorläufige Texte", "Pädagogische Fallbesprechungsgruppen aus situationsdynamischer Perspektive", Dr. Edgar Kösler, Denzlingen, 1993/1994, S. 34

Den sogenannten Alltag in all seinen Lebensräumen in einem derart weit gespannten Bogen von den beruflichen über die sogenannten privaten bis hin zu den fort- und weiterbildenden, kulturellen und politischen Lebensbereichen beobachten und hinsichtlich seines Potentials untersuchen zu wollen, umreißt nicht nur einen recht großen Untersuchungsfokus, sondern skizziert Möglichkeitsräume für ebenso vielfältige Schlussfolgerungen wie auch für Spannungen, Kontroversen und Konflikte um die Grundlagen situationsdynamischer Arbeit.

Hier handelte es sich um Kontroversen, mit denen sich die frühen SituationsdynamikerInnen immer auch persönlich konfrontiert sahen und die ihnen zeigten, inwiefern ihre praktizierten Lebens-Entwürfe mit dem übereinstimmten, was sie anderen Menschen, v a. in der kritischen Betrachtung ihrer institutionalisierten Arbeit und deren Organisationsformen empfahlen. Allerdings brachte die dann wachsende Öffentlichkeit der SD-Arbeit ebenfalls eine Annäherung und Anpassung an institutionalisierte Organisationsformen mit sich, die in der vorgeschlagenen Form nicht von allen akzeptiert werden konnte. So trennten sich die Wege einiger SD-Wegbereiter von denjenigen, die 1985 die "Deutsche Gesellschaft für Situationsdynamik e.V." gründeten, um einer breiteren Öffentlichkeit ein Arbeiten mit der SD-Idee zugänglich zu machen.

Die Basis solcher immer auch handlungstheoretisch geprägter Such-Bewegungen waren damals wie heute traditionelle und aktuelle Geistes- und Sozialwissenschaftliche Theorien und daraus abgeleitete Arbeitsansätze. So könnte man in Kürze die theoretische Basis von SD beschreiben, die zur Grundlage aller Generationen SD-Auszubildender wurde. Bereits erprobte und beschriebene situative Suchbewegungen der Vorläufer-Gruppen bestätigten, dass sie bereits mit einiger Beweglichkeit und Wirkung auf gesellschafts- und bildungspolitische Kontroversen ihrer Zeit (zu Beginn der 1980er Jahre) reagieren konnten.

Bereits diese kurze Skizze zur Entstehung und Institutionalisierung der Idee namens SD mag verdeutlichen, dass deren Beschreibung mehrere Betrachtungsebenen benötigt. Die weiteren Texte in dieser Rubrik "Rund um die Situation" konzentrieren sich auf Grundlagen der Situationsdynamik. Sie ermöglichen einen zeitgeschichtlich fokussierten Blick in die damaligen Auseinandersetzungen um Bedeutung und Realisierung der SD-Idee. Die fortgesetzten intensiven Diskurse lassen sich bis Ende der 1980er-Jahre aus Sicht der damals noch aktiven Gruppe IAEL e.V. (Institut für alternative Erwachsenenbildungs- und Lebensformen) anhand ihrer Veröffentlichungen in den "Vorläufigen Texten" nachvollziehen.

Die vertiefenden Beiträge zu den vier Aspekten der Situation werden sich dann aus unterschiedlichen Perspektiven mit den theoretischen Hintergründen der SD als Denk-Idee und daraus abgeleiteten Handlungs-Ideen befassen.

Da Situationsdynamik, wie der Name schon sagt, immer auch als Kind ihrer Zeit zu verstehen ist, wird Geschichte als historische, lebensgeschichtliche, zeitgeschichtliche, (bildungs-)politische und (inter-)kulturelle Konstante in den weiteren Texten immer wieder als roter Faden und prägende Konstante der SD-Arbeit auftauchen. Seien Sie also als Leser und Leserinnen herzlich eingeladen, auch auf diesem Wege die Entstehungsgeschichte, Idee und Praxis der Situationsdynamik mit zu entschlüsseln und vielleicht auch als Denk- und Handlungsalternative für das eigene Leben zu entdecken.


aus "Situationsdynamik - Guck doch mal, wie Du guckst! Wer situativ beobachtet, weiß weniger und sieht mehr...", S. 11 ff., Saarbrücken, 2011  

Christiane Schmidt, Supervisorin und Trainerin für Situationsdynamik (DGSD)