Erstes Mannheimer SD-Interview mit Herbert Euschen

Wie gelangt die Welt in die Situation?
Oder: Wie sich „Drinnen“ und „Draussen“ konstruieren lassen

Christiane Schmidt: Du sagtest kürzlich in einem unserer Theoriegespräche, Situationsdynamik sei Dein Leitprojekt seit 25 Jahren. Mich interessiert, wie es dazu kam und wie Du auf die Bezeichnung „Situationsdynamik“ gekommen bist. Magst Du etwas darüber erzählen? Oder möchtest Du erstmal auf die Definitionsfrage eingehen, was Situationsdynamik eigentlich ist?
Herbert Euschen: Das ist ja eine gute Einstiegsdifferenz. Kann man die SD eher definitorisch beschreiben oder eher narrativ, mit Geschichten? Man kann sowohl als auch, aber ich habe den Eindruck, daß die definitorische Präsentation der Situationsdynamik wenig zieht. Die Dramatik, die in dem Begriff oder Konzept drinsteckt, wird nicht deutlich, wenn man es einfach so definitorisch präsentiert.
Christiane: inwiefern?
Herbert: Das ist glaube ich derselbe Unterschied, wenn man auf der Erfahrungsebene eine Gruppe bittet, mal zu sagen, was hier und jetzt los ist. Dann entsteht auch ein ähnlicher Unterschied. Entweder sehen die Leute gar nix…
Christiane: … weil nix da ist oder weil zu viel da ist?
Herbert: Wenn sie in der Gruppe so rumgucken und sagen, ja , was soll hier jetzt los sein? Nix ist los, außer daß Sie `ne Frage gestellt haben. Oder es wird dann plötzlich so viel losgetreten, daß eben dieses Phänomen der Überkomplexität entsteht, ja? Also ist das ein sehr komplexer Kommunikations- und auch Wahrnehmungsprozess. Und so ist das auch mit dem rein definitorischen Vortragen. Also, wenn man sagt: Situationsdynamik ist alles das, was hier und jetzt der Fall ist. Das kann man mit einem Satz sagen, ja?
Christiane: Okay, aber was sagt das dann aus?
Herbert: (lacht)…Es ist wie es ist! So what? Vielleicht entsteht ein sinnvoller Prozess erst, indem mehrere Beobachter unterschiedliche Aussagen treffen. Dann ensteht ein Dialog. Typischerweise geschieht das ja nicht in der Form, daß es heißt: Also, ich sehe jetzt z.B. diese beiden Fenster. Oder, weil Du umgekehrt sitzt: Ich sehe hier das Bücherregal. Dann entsteht erstmal so eine Phase von Toleranz. Okay, Du siehst was in der Richtung, ich seh was in dieser Richtung. Das scheint auch noch recht unstrittig zu sein, ist auf jeden Fall kein Aufreger, ja?
Die Dynamik einer Situation entzündet sich dann erst an etwas anderem, nicht an dem Unterschied: ich sehe hier etwas – Du siehst dort etwas anderes, ein Dritter sieht wieder etwas anderes. Da habe ich die Erfahrung gemacht, daß die meisten Leute das auch nebeneinander stehen lassen können, auch teilweise überlappend, ganz selten, daß sie sich über den Nahbereich groß streiten.
Man streitet sich offensichtlich eher über etwas weiter Entferntes. Und je weiter entfernt, desto mehr streitet man sich. Über die Iraker kann man sich streiten. Aber ob jetzt hier zwei Fenster sind, da muß man sich schon anstrengen. Die sinnliche Präsenz ist offensichtlich nicht so strittig, zumindest nicht in dem Horizont, wie ich es jetzt hier darstelle. Die Dramatik entsteht, wenn beispielsweise mehrere Leute sich über den Irak streiten, Meinungsunterschiede anbringen. Je mehr man das auf das Hier und Jetzt reflektiert, wie das so schön heißt, um so dynamischer wird das dann.
Christiane: Dann passiert der Irak hier und jetzt in der Gruppe?
Herbert: Genau. Man könnte sich wirklich fragen, ob dieses Hereinholen eines Themas - sozusagen von den Weltgrenzen hierher - mehr ist als nur einfach eine Themenverschiebung. Eine einfache Themenverschiebung wäre ja: Wir können über den Irak diskutieren, und wir können über die Anzahl der Fenster in diesem Raum diskutieren. Das sind erstmal semantisch gesehen zwei gleichrangige Geschichten. Örtlich gesehen ist der Irak viel weiter weg und für uns jetzt sinnlich auch nicht greifbar, sondern nur gedanklich, und auch erinnerungsmäßig, ja?
Jeder von uns beiden hat daraufhin eine Erinnerung an irgendwelche Medienberichte oder falls man mal da war, biographische Erinnerungen, aber der Irak ist jedenfalls nicht sinnlich präsent. Doch die Fenster sind sinnlich präsent. Gut, das ist jetzt mal ein Unterschied. Es gibt präsente Themen und es gibt distante Themen, die präsent gemacht werden. Aber auch das erzeugt einfach nur einen Unterschied, das ist ja auch nicht sehr dramatisch.
Dramatisch wird wirklich erst die Frage, wenn man über den Irak als Sachthema diskutiert und dann beobachtet, wie das mit wirklich präsenten Nicht-Themen zusammenhängt, ja? Also das ist ein weiterer Unterschied: der zwischen Thema und Nicht-Thema. Oder zwischen Thema und Begleitumständen. Oder zwischen der Fokussierung und der freischwebenden Aufmerksamkeit. Alles ist gleich wichtig. Alles ist gleich gültig. Wenn das dann mit reinkommt, dann wird es plötzlich bedrängender. Und dann gibt es ja ein uraltes Deutungsmuster, wenn die Leute erstmal so sachlich geredet haben, von mir aus über den Irak, und jemand macht dann eine persönliche Bemerkung zu einem anderen, ja? Dann heißt es: Jetzt werden Sie mal nicht persönlich! Also, es heißt: Man soll nicht persönlich werden!
Jetzt könnte man in unserem Zusammenhang mal ein Untersuchungsdesign aufbauen und beobachten, was wäre, wenn einer sagen würde: jetzt werden Sie mal nicht situativ!
Christiane: Habe ich noch nie gehört. Wozu ersetzt Du persönlich durch situativ?
Herbert:Stell’ es Dir einfach mal vor! Also, jetzt lassen Sie doch mal das Hier und Jetzt aus dem Spiel, Mensch! Warum reden Sie denn immer über hier und jetzt? Wir reden doch über den Irak! Dieses Phänomen „Jetzt werden Sie doch mal nicht persönlich!“ ist ja mehr oder weniger bekannt, ja? Aber ich habe noch nie gehört, daß jemand sagt: jetzt werden Sie doch mal nicht situativ! Oder?
Christiane:Nee, das wäre wirklich mal was Neues. Und was passiert dann im Hier und Jetzt?
Herbert: Na ja, wenn man jetzt von der Begriffskonstruktion ausgeht: „persönlich“… Die Personen, die da gemeint sind, die sind ja im Hier und Jetzt. Man hätte dann die individuelle oder die Beziehungsebene, die Ich- oder die Wir-Ebene. Oder eine andere Variante wäre: Wenn jetzt z.B. über den Irak geredet wird: Es gibt dort glaube ich sechs oder acht Millionen Einwohner oder es können auch siebzehn Millionen sein, ich weiß es nicht genau. So, wenn dann plötzlich einer sagt: Ja, aber weisste, mir selber macht das aber schon zu schaffen, wie es den Menschen da gehen mag. Und zack, ist man hier, ja?
Christiane: Mhm, man könnte fragen: Wieso macht denn Dir das jetzt zu schaffen?
Herbert: Genau. Das kann Dir doch egal sein…Mir fällt gerade ein, ich habe das öfter schon erlebt, wenn z.B. ältere Leute dann so einen Satz sagen wie „Ah, wie mag’s dem denn jetzt wohl gehen?“ Das ist so ein sonderbarer Effekt. Da fallen mir ganz alte Kriegsgeschichten ein, die in unserer Familie erzählt wurden. Da hieß es dann, der Soldat oder der Familienangehörige Soundso, der ist vermißt. Ich weiß nicht, kennst Du diese Metapher?
Christiane: Ja, aus Erzählungen meiner Großeltern und Eltern…
Herbert: Jemand ist vermißt. Und wenn dann jemand gesagt hat: oh, wie mag’s dem wohl jetzt gehen? – zack, ist die Stimmung gekippt. Das war nie richtig angenehm, wenn einer das so gesagt hat. Man hat richtig gemerkt, daß dann vor allem auch die Jüngeren dachten: Oh, muß das da jetzt sein? Nee, jetzt kommt die wieder!
Christiane: Na ja, man kann es eben überhaupt nicht wissen…
Herbert: Das ist das Draußenhalten des Draußen aus dem Hier und Jetzt. Das hat ja auch eine gewisse Vernunft. Wir reden ja nicht umsonst über was anderes und nicht über das Hier und Jetzt. Und jetzt mußt Du dummer Hund ausgerechnet, wo wir das so schön konstruiert haben, über den Onkel Albert und die Tante Martha und Hinten und Vorn und All-nix-Gutes reden? Die sind alle in Rußland oder sonstwo vermißt. Ist doch schön und gut. Und jetzt mußt Du ausgerechnet diese Operation durchführen und sagen: Ach, wie mag’s denen bloß jetzt gehen? Das geht mir aber richtig durch Herz und Nieren. Zack, da hat man den Salat. Da muß man plötzlich die Nöte angucken und kann nicht traumverloren an die russische Taiga denken.
Christiane: Okay, die Vermißten sind ja nicht nur nicht da. Man bringt ja eine völlige Ungewißheit in die Situation, man weiß gar nicht, ob sie überhaupt noch irgendwo da sind. Was kann man dazu sagen?
Herbert: Aber der, der sie vermißt, der ist hier! Und der ist dann das Einfallstor der Welt in die Situation. Das finde ich einen interessanten Beobachtungspunkt. Wie kommt eigentlich die Welt in die Situation? Wie kommt der Irak hierher, jetzt, ganz konkret? Wir haben uns jetzt vorgenommen, über Situationsdynamik zu reden. Ich habe gleich mal eingehakt bei der Unterscheidung „Kann man SD begrifflich, definitorisch präsentieren? Oder besser über Geschichten?“ Und jetzt ist es ja eigentlich – wenn ich die letzten fünf oder zehn Minuten reflektiere - ein einziges Assoziationsfeld. Du hast mich bis jetzt nicht groß gelenkt oder beeinflusst…
Christiane: Nein, bisher nicht. Du bewegst Dich bis jetzt durch eine beschreibende Rundumdefinition von Situationsdynamik und wie in Situationen Dynamik entstehen und sich bemerkbar machen kann…
Herbert:Ja, es ist jetzt eine Assoziation nach der anderen… und dabei eben auch Erinnerungen - und biographische Phantasien, muß man ja eigentlich sagen. So sind wir jetzt schon gewandert vom Irak bis in die russische Taiga – und von der Zeit her ungefähr in dem Zeitraum aktuelle Ereignisse bis zurück zu biographischen Erinnerungen, wie es früher in meiner Familie zumindest war… Mitte der sechziger Jahre wird das so ungefähr gewesen sein… Und jetzt könnten wir mal beobachten, wie ist das eigentlich hierhergekommen? Und wenn es hier ist, wo ist es jetzt? Also, Du hast vermutlich einige Bilder oder Ideen … wie auch immer…?
Christiane: Ja, Geschichten, die eigentlich auch nicht wirklich meine sind, sondern Erinnerungen an Gespräche mit Eltern und Großeltern, die ich in mir herumtrage, auch Assoziationen aus dem, was ich gelesen und in Filmen gesehen habe…
Herbert:Aber eigentlich sind das auch Weltereignisse. Aber es sind Ereignisse, die nicht hier passieren, sondern die man über irgendwelche Erinnerungsspeicher erreichen kann, die ja letztendlich bei Dir und bei mir im Körper sind. Das ist für mich ein wichtiger Punkt.
Wo sind die Einfallstore der Welt in die Situation? Es läuft über die Körper der Menschen. Das sind die Einfallstore der Welt in die Situation. Auch über Techniken, wie z.B. Fernsehen – so wie vorhin, als wir vor dem Restaurant saßen, als Klagenfurt durch den Fernseher auf der Restaurantterrasse in die Situation eintrat, repräsentiert durch das EM-Fußballspiel Deutschland gegen Polen. Interessanterweise braucht man diese Medien nicht unbedingt, man kann diese Assoziationen körperlich auch repräsentieren.
Das ist für mich auch ein wichtiger Punkt, wenn man die Frage stellt: Was wird denn da auf einmal so dynamisch? Das ist im Grunde ganz einfach, weil das Dynamische durch die Körper der Menschen hergestellt wird. Also, den Irak schleppe ich mit Hilfe meines Körpers hierher – und damit ist körperlich was gegeben. Gut, jetzt kann man sagen, wenn einer das Wort Irak ausspricht, da wird körperlich nicht viel passieren. Aber diese Hypothese muß man nicht teilen. Da kann sehr wohl körperlich viel passieren: Blutdruck, Herzschlag, Aufregung, Trauer, Tränen…
Oder man kann sich totlachen, wenn einer einen Witz erzählt. Und dann eben auch die Abwehrprozesse, dieses Atem anhalten. Hoffentlich sagt die das jetzt nicht! Hoffentlich sagt die jetzt nix falsches, wenn hier das Tonband läuft, ja? (lacht).
Christiane:Mhm. Und was passiert dann, wenn der Körper die Welt in die Situation hineinträgt?
Herbert: Gut, ich nehm jetzt nicht an, daß hier und jetzt deswegen tatsächlich eine große Dramatik da ist. Aber man könnte sich das vorstellen, in einer Staffsitzung beispielsweise. Als wir eben über den Staff für das Gruppendynamik-Training geredet haben, das demnächst stattfinden wird, wer da wen woher alles kennt. Da kann es durchaus mal zu so einer Situation kommen, daß Du denkst: „Oh oh, hoffentlich fragt der Daniel jetzt nicht was Falsches!“ „Was habt Ihr zwei eigentlich miteinander?“ Das könnte so eine Reaktion ergeben: „Hups! Daniel, Du blöder Hund…!“
Christiane: Ja, solche alte Geschichten können augenblicklich aktualisiert werden. Er könnte ja fragen, ah, Ursula Geißner? Deine Kollegin oder was? Mit U. Geißner bin ich per Sie, mit Dir per Du, seit wann und wie denn das? Daniel kenne ich noch gar nicht. Das sind dann schon einfachste Voraussetzungen, die irritierende Fragen und Geschichten provozieren und in der Situation wieder aufleben lassen können, auch wenn ich das gar nicht beabsichtige. Sie sind ja mit meinem Körper hier und jetzt immer schon da.
Herbert:Ja, das wäre der Fall jetzt, das sind ja auch biographische Geschichten. So, und wiederum geht es um die Frage: Was ist Situationsdynamik? Könnte man jetzt sagen: Die Situation wird dann dynamisch, wenn ein Teil der Welt hier reingeschleppt wird und dieser Teil der Welt irgendwelche gefährlichen oder brisanten Prozesse hier auslöst? Der Irak an sich, als Buchstabenkombination IRAK wird vermutlich nichts auslösen, oder? Das Wort hat schon einen semantischen Sinn, damit meint man ein bestimmtes Land. Aber selbst wenn jetzt dort gerade ein Krieg ist, mit vielen Opfern und Billionen von Dollar und Ungerechtigkeit oder was man sich alles so dazu denken kann, dann ist das aber alles auf der semantischen Ebene für die Situation nicht so dynamisch, sondern es dynamisiert die Situation, indem es ein Auslöser für etwas hier ist, und zwar ein proaktiver Auslöser, daß was in Gang kommt oder eben eine Sperrung. Und alle Beteiligten oder ein Teil der Beteiligten merken: aha, jetzt ist hier was verboten.
Christiane: Tabu!
Herbert: Tabu, ja, Befürchtungen können auftreten… Ein weiterer Punkt ist dann das Stichwort Intentionalität. Die Unterscheidung: Paßt das, was einem da jetzt über die Welt einfällt, paßt das zum Sinn der Situation oder nicht? Wenn es so ein Zufallsgespräch ist, wie mir das jetzt mit dem Irak eingefallen ist (ich weiß noch gar nicht, in welchem Zusammenhang das stehen kann), ist es relativ ungefährlich oder nicht sehr dynamisch, wenn es zum Sinn des Gesprächs dazupaßt. Ich hatte diese Woche bei einem dieser beiden Seminare, von denen ich eben erzählt hab, eine Formel an die Tafel geschrieben zum Thema Banalisierung, die Heinz von Foerster z.B. der Mathematik vorhält. Da wird behauptet, wenn mal einer eine Rechnung gemacht hat, dann ist es im Kalkül. Dann wird das Kalkül immer so funktionieren: 1 + 1 = 2. Das ist banal. Das ist immer so, immer 2. Und in der SD würde man sagen: 1 +1 sei jetzt mal 2. Wer weiß, wie es demnächst ist?
Jedenfalls habe ich im Seminar an die Tafel geschrieben: was kommt denn bei folgendem Kalkül raus? 1 + 1 + ich liebe Dich = wieviel? Da haben sie sich bald totgelacht, gell? Aber immerhin, das war dann eine interessante Diskussion, was passiert, wenn solche quantitativen und qualitativen Paradigmen durcheinander gewirbelt werden. Insofern war es ein Witz, als daß es offensichtlich nicht zu irgendeiner konkreten Situation passen kann. Ja? Welche Situation ist denkbar, wo man so eine komische Idee sinnvoll integrieren kann? Aber es könnte ja wirklich sein, daß einer in den Matheunterricht, wo die Intention ist „wir wollen Mathe lernen oder wir wollen ein Kalkül durchrechnen“, so etwas reinbringt, dann ist plötzlich Leben in der Bude. Dann ist da zumindest ein Konflikt zwischen den anwesenden Aktiven und dem Sinn der Situation.
Christiane: Wer oder was bestimmt denn den Sinn bzw. die Intention der Situation?
Herbert:Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder die Situation an sich selbst, also autopoietisch: es hat sich einfach so ergeben, wenn man so will. Wie es manchmal so erzählt wird, ja? Am Anfang haben wir einfach zusammengesessen, haben das und das gemacht und dann hat es sich so ergeben.. und am Schluß war dann das und das. Dann kann es als zweite Möglichkeit sein, daß irgendein Agent in der Situation das bewerkstelligt, ohne oder gegen die anderen. Es könnte z.B. sein: die Gruppe wollte ja das und das, aber dann kam plötzlich ein Telefonanruf und da hieß es „Freunde, wenn Ihr jetzt nicht gleich ruhig seid da oben und wenn da nicht gleich das Ergebnis rauskommt, dann ist aber was gefällig!“ Da wäre dann ein Medium dafür zuständig. Und die dritte Möglichkeit wäre, daß die Situation von außen prästabilisiert ist. Nehmen wir an, wir sind hier in einem Amtsgericht und da steht draußen an der Tür „Schmidt gegen Schmidt“. Dann ist klar, wenn man da reingeht, da dürfte vermutlich ein Scheidungsverfahren stattfinden. Und wenn da jetzt einer anfängt, Liebesgeschichten zu erzählen, wird er sofort rausgeschmissen, nicht weil einer der Beteiligten was dagegen hätte, sondern weil die Situation von außen her prästabilisiert ist. Liebesgeschichten haben da nichts zu suchen.
Christiane: Die Situation „T-Gruppe im Gruppendynamik-Training“ ist dann eigentlich ebenso prästabilisiert wie die Situation „Scheidungsverfahren“, oder? Die T-Gruppe ist ja im Grunde sehr stark strukturiert und sie hat einen klaren Arbeitssauftrag.
Herbert: Ja, das ist so. Das ist für mich auch ein ganz wesentlicher Unterschied, wenigstens zur damaligen Aussage über Gruppendynamik. Die T-Gruppe ist nicht unstrukturiert, sondern es wird nur nicht verbal ein Themenkomplex präsentiert. So wie man an eine Sachgliederung gewöhnt ist: z.B. es ist 9.00 Uhr. Jetzt leite ich hier was ein, es ist 9.10 Uhr, jetzt kommt ich zum Hauptteil – und auch der sachlich durchgegliedert, es ist 9.50 Uhr, ich möchte jetzt meine Reflexion anleiten. In diesem Sinn hat die T-Gruppe keine Gliederung oder keine Struktur.
Ja, gut, aber ich denke, wir beiden würden sagen, ja denkste, Fiffi! Da sind tausende von Strukturen. Und die Kunst in der T-Gruppe ist eher, sich durch diesen Strukturdschungel durchzupfriemeln und nicht im reinen Nichts irgendwelche Strukturen zu erfinden. Selbst dieses Anfangssschweigen in T-Gruppen ist nach meiner Meinung voller Strukturen…
Christiane: Mhm, allerdings…
Herbert: Die schweigen nicht, weil da nichts ist oder weil sie sozusagen ohne Widerstände alles sagen könnten, es aber nicht tun, weil es keinen Sinn macht. Sondern die schweigen deswegen, weil alles da ist. Potentiell ist die ganze Weltmöglichkeit in der Situation vorhanden. Und der erste, der was sagt, haut in diese Weltmöglichkeit eine Schneise. Und damit prägt er natürlich alles, was danach kommt.
Christiane: ja. Mir kommt das manchmal vor wie ein großes weißes reines Blatt Papier und der Kaligraph sitzt mit seinem Pinsel davor…
Herbert: lacht…
Christiane: In dem Moment, in dem er den ersten Pinselstrich tut, muß er mit diesem Strich leben, mit dieser Intervention, die damit gesetzt ist. Sie läßt sich nicht zurücknehmen. Sie wird sich auswirken. Und dann zögert er um so mehr.
Herbert:Es gibt ja auch in der Pädagogik das selbe Doppelphänomen. So wie wir es jetzt für die Situation haben, gibt’s auch genau die selbe Doppelaussage über Kinder. Da gibt es die sogenannte Tabula-rasa-Theorie: Kinder sind am Anfang leere Tafeln, wenn sie auf die Welt kommen. Und die Pädagogen haben die Möglichkeit und auch die Verantwortung, die Tafel ordentlich zu beschreiben.
Dahin gehört auch das Konzept des Nürnberger Trichters. Da kann man sozusagen alles reinfüllen wie sich’s gehört, ne? Und die umgekehrte Theorie gab’s auch schon bei den klassischen Griechen. Die Idealisten vor allen Dingen, Platon, die haben die Idee gehabt: das Kind hat eigentlich die ganze Welt im Kopf und hat sie bloß vergessen. Und es kommt bloß drauf an, die Ideen wieder zu erwecken.
Das wäre dann z.B. eher die Position der Psychoanalyse. Das würde ich im Moment jetzt mal so deuten, weil die Psychoanalyse ja in keinster Weise davon ausgeht, daß im Analyseprozess alles reingestopft wird in den Analysanden, sondern es wird ja eher rausgezogen…

„Über die Kunst des Beobachters, zu unterscheiden…“

Christiane: Das würde dann heißen – wenn wir zu der Frage zurückkehren: Gehen wir an Situationsdynamik eher definitorisch strukturierend dran oder eher narrativ? – der von Dir bevorzugte Weg ist der assoziierende, erzählend herausholende Weg, oder?
Herbert: Narrativ, assoziativ, entwickelnd… , ja. Da kommt man natürlich auch zu der Frage: Wie entsteht denn eine Situation? Ist die Situation sozusagen präformiert? Oder entsteht die Situation sozusagen im Prozess aus sich selber heraus? Ich bin eher der zweiten Ansicht.
Das würde dann heißen: ja gut, dann muß sie assoziativ entstehen. Also, eins gibt das andere, sozusagen. Aber kann man sagen: Die erste situative Operation fällt in ein fertig ausgeprägtes situatives Feld? Oder entsteht das Feld und auch der Code, der sich drinnen entwickelt, dadurch, daß er entsteht? Das wäre eine typische autopoietische Prozedur. Und insofern können sich auch manche Situationen schon auflösen, bevor sie sich überhaupt entwickelt haben. Wobei man dann natürlich zu der Frage kommt: Hat eine Situation Zeit? Danach werde ich ganz häufig gefragt. Und im Moment ist meine Position, daß ich erstmal sage: Situation und Zeit sind zwei unterschiedliche Welten. Aber die Situation hat immerhin eine Eigendynamik. Und Dynamik setzt ja irgend etwas „zeitliches“ voraus…
Christiane: … etwas zeit-räumliches, weil wir Situationen sonst nicht als solche wahrnehmen können?
Herbert: So etwas zeiträumliches, ja. Es ist aber nichts urzeitliches. Also, wenn man fragt: wie lange dauert eine Situation? Da könnte man sagen: Drei Minuten. Es gibt ein paar empirische, mikrosoziologische oder sozialpsychologische Untersuchungen, die solche Zeitmessungen machen, z.B. in der Konsumforschung: wie lange beschäftigt sich ein Kunde mit einer Auslage? Oder: wie lange hält die Aufmerksamkeit für einen visuellen Reiz oder ähnliche Sachen, einen auditiven Reiz an? Oder die Geschichte, wie lange es dauert, wenn zwei Leute sich das erste Mal kennenlernen, bis sie sich so einschätzen können, daß sie beide sicher operieren. Es gibt da die Aussage. Oh, ich kenne Dich ja noch gar nicht, seit einem halben Jahr kennen wir uns erst! Die Sozialpsychologen sagen ja ziemlich klar und eindeutig: Das sind alles romantische Märchen. Das dauert nämlich ziemlich genau zwei Minuten, bis zwei Menschen sich so eingeschätzt haben, bis im Grunde alles g’schwätzt iss, gell?
Da spricht auch etwas aus dem ganz gesunden Menschenverstand dafür, nämlich: Wenn sich Menschen kennenlernen (nehmen wir mal an, daß sie nicht in so einer verwalteten Welt wie wir hier sind, wo man alles wieder rückgängig machen kann), sondern irgendwo in der Wildnis. Also diese Phantasie, der Neandertaler läuft da mit der großen Keule herum. Die können ja gar nicht ein halbes Jahr warten, bis sie sich sicher sind: haut der mich oder haut der mich nicht? Sondern das muss blitzschnell klar sein: ist der eine Gefahr? Oder ist der keine Gefahr? Nehmen wir das mal als Grundoperation, ja? Wenn er eine Gefahr ist, wehre ich mich oder haue ab. Und wenn er keine Gefahr ist, dann bleibe ich halt da, ja? Da kann ich mir nicht ein halbes Jahr Zeit lassen. Inzwischen hat der mir längst eins übergebretzelt.
Christiane: Ja, gut, dabei handelt es sich um die Dauer einer sozialpsychologischen Grundoperation, ob ich jemanden als Gefahr einschätze oder nicht. Inwiefern ist das maßgeblich für die Dauer von Situationen an sich?
Herbert: Immerhin, man kann daraus die Konsequenz ziehen, daß sich eine Situation in ihrem Funktionszusammenhang vermutlich recht schnell aufbauen kann, gell? Z.B. bis hin zu katastrophischen Geschichten, wenn ein Autounfall passiert. Nehmen wir mal an, drei Autos fahren von verschiedenen Seiten auf eine Kreuzung zu, und von mir aus noch jemand viertes, der steht auf der Seite und hält sich schon die Augen zu oder die Ohren, weil er empfindlich ist. Neulich hab ich gesehen, wie Autos zusammengebollert sind, da hab ich mir gleich die Ohren zugehalten, das hat nämlich einen dermaßenen Krach gemacht, gell? Das ist ziemlich laut, so ein Autounfall. Ja? Und das geht ja dann blitzschnell. Gut, das sind dann separate Beobachter und Beteiligte erstmal, also jeweils die Autobesatzung und der Beobachter, der sich die Ohren zuhält, aber irgendwie finden die ja zusammen. Auf der Sachebene ist ja dann ganz schnell was gelaufen. Dann auf der Individualebene, was die beobachtet haben. Und dann kommt ja recht schnell die Kommunikation drüber…
Christiane: Mhm, und dann kommt recht schnell die eigentliche Katastrophe, denn jeder hat was anderes gesehen.
Herbert: Ja, das auch …Und vielleicht wäre das mal eine interessante Frage: Wie entsteht eigentlich daraufhin die Intentionalität? Man kann ja jetzt beim Autounfall oder bei einer Katastrophe nicht sagen, das ist eine gewollte, zweckorientierte Operation, sondern das ist ein Zufall, ja? …wie die sich gegenseitig so schnell so nahe gekommen sind.
Christiane: Ja, aber ganz dumm gelaufen! Die einzige Intention, die ich in solchen Situation kennengelernt habe, ist bei allen Beteiligten ganz ähnlich, nämlich: Ich war nicht Schuld! Ich habe nix gemacht! Du bist es gewesen… und das geht dann im Kreis herum, bis die Anwälte einschreiten und daran viel Geld verdienen.
Herbert: Genau, ja… also ein Streit, ja? Aber das ist doch eine Art von Auflösungsintention. In so einem Unfall versucht man ja als allererstes, aus dem Unfall was Geordnetes zu machen, also zu retten, zu bergen, zu sichern, auseinanderzuziehen. Es ist wohl ein Situationstyp (falls man überhaupt von Situationstypen reden kann), wo die Intentionalität nicht etwas bekräftigendes ist, sondern man versucht geradezu die zufällig entstandene Situation qualitativ zu ändern.
Man will den Zufall, daß da Autos zusammengeknallt sind, in eine Ordnung hineinbringen, mit der Überschrift „Rettungssituation“, ja? Man probiert möglichst schnell aus der Unfallsituation eine Rettungssituation zu machen, sofern man das kategorial unterscheiden möchte. Ich würde das durchaus tun, denn die Kategorie „Unfall“ heißt intentional: „weg davon“! Und die Kategorie Rettung heißt intentional: Hinein. Also werden Ressourcen hineingesteckt – und aus dem Unfall werden sie möglichst herausgezogen. Und das ist ja schon genau das Gegenteil.
Christiane: Das Phänomen Weg-Davon oder „Ungeschehen-Machen-Wollen könnte dann auch „Fahrerflucht“ heißen oder alle Verantwortung von sich zu weisen…
Herbert: Ja, bis hin zu dem blitzschnellen Wunsch „Ach, wär das doch nicht passiert!“ Ungeschehen machen. Am besten wäre es, wenn die Situation gar nicht entstanden wäre. Sie ist aber entstanden. Und gut, wenn sie jetzt entstanden ist, dann ist das wie eine Wellenbewegung. Bleiben wir mal bei dem Bild mit diesem Auto-Unfall. Das ist gar nicht so schlecht, weil das eben nicht nur eine soziale Geschichte, eine Gruppengeschichte ist, sondern da sind ja auch Sachwerte, Autos, andere Dinge, Sachdynamik, ja? So, da sausen also von mir aus zwei, drei Autos zusammen, zack! Und der Beobachter hält sich vielleicht die Augen zu und sagt: Oh nee! Hoffentlich ist da nix passiert! Ist aber was passiert!
Christiane: Muß ich jetzt den Krankenwagen anrufen? fragt die Krankenschwester. Der Rechtsanwalt sagt: Das gibt ein schönes Mandat, wenn mich jetzt jemand beauftragt. Bleib ich mal besser unaufdringlich in der Nähe.
Herbert: Das ist die Frage. Aber okay, das kann durchaus sein, daß einer so schnell reagiert und dann auch interessenmäßig, weil das ist ja auch eine Interessenposition.
Christiane: Ich habe gehört, daß es gar nicht so selten vorkommt, daß Rechtsanwälte ungewöhnlich früh in Unfallsituationen auftauchen – und manche dann vor Ort Mandate jagen, auch eine Intention, solche Situationen aufzusuchen…
Herbert: Aber in der Mikroebene, glaube ich, ist erst mal eine Art von Fluchtreaktion angesagt und Flucht heißt ja: Auflösung der Situation, ja? Wenn alle diese Sachen nach außen laufen, erst mal kracht’s zusammen, dann nichts wie weg da! Deswegen hab ich eben gesagt: es ist eine Welle. Das läuft zusammen, dann gibt’s eine Gegenbewegung auseinander und dann läuft es wieder zusammen unter dem Aspekt Rettung oder Ressourcen mobilisieren…

Die Unterscheidung von „Alltag“ und „Situation“…

Christiane: ja, klar, denn „weg da!“, ein Ungeschehenmachen geht ja nicht, die Karren sind ja ineinander gedonnert und da stehen sie nun. Dieses Beispiel erinnert mich auch an manche Situationsdynamik-Trainings, in denen ich auch so in etwa ein „Unfall“-Erleben infolge diverser Interventionen hatte, wenn Leute dann aneinander krachten und auf einmal deren Weltordnungen in Konflikte gerieten. Da hab ich mich auch schon manchmal gefragt: ach je! was habe ich jetzt gesagt? Hätte ich’s doch besser gelassen? Da laufen vielleicht ähnliche Unfall-Wellen ab, bis hin zu darauffolgenden Rettungs- oder Lösungsinitiativen…?
Herbert: Wenn Du das Paradigma Training erwähnst, da laufen logischerweise auch Situationen ab. Es sind im Training ja alle Definitionsmerkmale der Hier-und-Jetzt-Situation gegeben. Aber man muß immer berücksichtigen, bei aller Dramatik, die da auch manchmal auftaucht: Das Training ist ja was Inszeniertes, auch etwas Voluntatives. Man kann jederzeit sagen, wir wollen nicht mehr, wir hören auf, dann findet die Trainings-Situation nicht mehr statt. Und insofern meine ich, das Ausgangsmaterial der Situationsdynamik ist das, was ich „Alltag“ nenne, ja? Auch wenn das allerdings sehr schwer zugänglich ist.
Christiane: Mhm? Kann man die Trainings-Situation als voluntaristisch betrachten? Hab’s noch nie erlebt, daß das jemand getan hat… Für mich ist die Trainings-Situation eine ganz eigene Welt und Wirklichkeit, mit anderen Herausforderungen als denen, die ich in eher alltäglichen Begegnungen erlebe.
Herbert: Du hattest ja eingangs gefragt: Wie ist denn eigentlich der Begriff Situationsdynamik entstanden? Das war Anfang der 80er Jahre. Davor hatte ich mich mit dem Begriff des „Alltags“ beschäftigt. Das ist ja auch ein ganz vertracktes Ding. Also, den „Alltag“ hatte ich damals als eine Struktur definiert. Ich hatte es damals ein bißchen naturwissenschaftlich ausgedrückt. Da hatte ich gesagt: Es ist ein Amalgam von subjektiven und objektiven Gegebenheiten oder Prozessen.
Und wenn man schon den subjektiven Teil daran identifizieren kann, dann muß man sagen, es handelt sich um nachbewußte Prozesse, also die waren mal bewußt, die sind sozuzusagen formal noch präsent, aber inhaltlich sinnhaft vergessen.
Im Großen und Ganzen ist der Alltag durch Routinen strukturiert. Das war damals meine Arbeitshypothese. Darüber hatte ich auch meine Diplomarbeit in Soziologie geschrieben… Wie hieß denn das noch? Ah so, eine „Soziologie der alternativen Lebensformen“.
Und das war eben die Frage: Was ist denn eigentlich vor den alternativen Lebensformen? Da hab ich gesagt: Das ist der „Alltag“. Alternative Lebensformen, das war damals die Zeit der Wohngemeinschaftsbewegungen, Landkommunen. Auch Bio-Dingsbums und die ersten grünen Überlegungen waren damals. Es gab die tollsten zum Teil auch sehr esoterischen oder auch exoterischen Versuche. Das waren ja Lebensversuche. Und es war sehr schwer darauf zu kommen, was denn das gemeinsame Merkmal ist. Da gab’s Leute, die gesagt haben, das gemeinsame Merkmal der Alternativbewegung ist, daß es kein gemeinsames Merkmal gibt. Das war die Theorie des Bunten, des Vielfältigen, des ein bißchen zu Individualistischen. Jeder ist sein eigener Experimentator, fertig. Mehr kann er nicht sagen. Und das hat mich geärgert. Das kann man doch nicht bringen heutzutage! Ich habe dann eben gesagt: Das Definitionsmerkmal der Alternativbewegung ist „die intentional veränderten Alltagsformen“ oder „die intentional veränderten Lebensformen“. Das war der Ausgangspunkt. Und das hat dann auch etwas mit Situationsdynamik zu tun, weil ich dann gefragt habe: Was ist jetzt wiederum eine intentional veränderte Alltagsform? Antwort: Das ist die Situation. Das Hier und Jetzt. Ich kann sozusagen durch das Querstellen der Situation (im Verhältnis zu den rechtwinklig entweder vertikal oder horizontal strukturierten Alltagsroutinen) das Hier und Jetzt querstellen. Ich kann dem Hier und Jetzt einen anderen Sinn geben, im Unterschied zur Systemwelt, ja? Alltag gleich Systemwelt.
Und Situation steht existentiell quer zur Systemwelt, das ist ja auch der philosophische Begriff der Existenz: Der Einzelfall, das Ereignis, was quer zur Erwartungsstruktur steht. Das ist sozusagen ein bißchen verdreht, eigen-sinnig. Der Eigen-Sinn-Begriff ist daraus auch entstanden.

Was hat Situationsdynamik mit Politik und Ethik zu tun? Der Weg von Makroüberlegungen zur situativen Beobachtung…

Herbert: Ich hatte den Eindruck, daß in den Fragen, die Du vorbereitet hattest, relativ viel ethische Komponenten drin sind. Du hattest auch nach Emanzipation und Utopie gefragt.
Christiane: Ja, zum Stellenwert emanzipatorischer Bildungsarbeit in der Situationsdynamik und zur angeblich ursprünglich emanzipatorischen Intention von SD würde ich Dich gern fragen.
Herbert: Das ist mir gerade dazu eingefallen, als ich erzählt hatte über den Alltag. Wenn man politisch und ethisch so fragen will… Da war mein erster Gedanke damals: die Ethik der Situation ist eigentlich eine Emanzipation aus dieser merkwürdigen Bewußtseinskonstellation, die ich glaubte, damals feststellen zu können. Nämlich so eine Mischung aus formalem Druck (die Leute haben nicht erst in den letzten paar Jahren einen solchen Leistungsdruck, das war damals auch schon so), eine Mischung aus entfremdeter Geschichte und inhaltlicher Leere. Inhaltlich so etwas Depressives, Leeres, Graues. Da war der graue Alltag und gleichzeitig aber ein formaler Druck, ein Systemdruck, ja? Das System hat aus den Systemzwängen heraus - das hat man damals auch schon Sachzwänge genannt - sozusagen Sachdynamik entwickelt.
Man könnte das auch aufzeichnen, als ein XY-System: Auf der X-Achse hoher formaler Druck und niedriger formaler Druck. Und auf der Y-Achse große inhaltliche Leere und kleine inhaltliche Leere oder inhaltliche Fülle sogar, ja? So... (skizziert mit den X- und Y-Achsen ein Kreuz als Basis eines Vier-Felder-Konstrukts und in den Feldern die jeweils in Kombination entstehenden Phänomene: geringer formaler Druck und geringe inhaltliche Leere bzw. große inhaltliche Fülle sowie hoher formaler Druck und große inhaltliche Leere bzw. geringe inhaltliche Fülle) …
In dem Feld „große inhaltliche Leere“ entstehen ja auch Leidenspotentiale und auch politische Potentiale. Der Begriff der Entfremdung, ja? Nach Karl Marx und anderen, es gibt ja auch noch andere Entfremdungstheoretiker. Weil Du nach Ethik gefragt hattest und welche politischen Utopien dahintergestanden haben: Was mich da ethisch bewegt hat, war, das Leiden von Menschen unter diesem Aspekt mal anzugehen. Insofern wäre die Situationsdynamik auch ein Versuch, durch weniger oder gar nicht entfremdete Lebensstrukturen den Alltag aufzuheben.
Und wenn ich das gerade mal zeitgeschichtlich dazu sagen kann, war das für mich eigentlich ein Gegenentwurf zu dem, was Rudi Dutschke damals gesagt hat: Der Marsch durch die Institutionen. Das war für mich schon damals schon suspekt. Biographisch betrachtet war das für mich die Zeit, als ich mit dem Jurastudium langsam fertig war. Ich war ja damals Juso und bei der SPD und im Saarland – und so groß ist das Saarland ja nicht. Und ich weiß noch, da sagte mir der damalige Innenminister, Läpple hieß der, ein gestandener Sozialdemokrat: Guck, daß Du fertig wirst, mach Dein zweites Staatsexamen, dann kommst Du zu mir ins Innenministerium und Du kriegst ’ne gute Stelle und wenn die nächsten Landtagswahlen ’rum sind, dann wirst Du Staatssekretär.
Christiane: hups!
Herbert: Ja, das war meine mir vorgesehene Berufskarriere. Jura war mein erstes Studium, mein grundständiges. Dann gab’s damals noch zufällige persönliche Geschichten dazu, die sind jetzt hier nicht so wichtig. Aber im Zuge der SD-Entwicklung war das damals schon die Frage: Was soll das eigentlich unter dem emanzipatorischen Anspruch, den wir hatten?
Christiane: Ihr hattet also tatsächlich einen emanzipatorischen Anspruch?
Herbert: Ja, da waren die Juso-Hochschulgruppen und so weiter gegen die Entfremdung der Menschen, andere waren gegen die Ausbeutung. Das war für mich immer ein alter Käs, weil das hat der Karl Marx schon berechnet gehabt. Gut, fertig, ja? Aber die Entfremdungsdebatte, die war bei weitem nicht durchgerechnet und durchdiskutiert. Und das hat mich inhaltlich sehr gepackt. Was kann man gegen die Entfremdung tun?
Und dann hab ich gesehen, gut, die sozialliberale Koalition hat sich bemüht, da irgendwelche Aufbruchsgeschichten zu machen, über Willi Brandt usw. Und was ist dabei rausgekommen? Für den Alltag der Menschen grad gar nix, ja? Gut, heute würd ich es jetzt nicht mehr so sagen, weil, jetzt mit Abstand von der Zeit sieht man schon, was die 60er- und 70er-Jahre bedeutet haben. Also da gibt es schon die Emanzipation der Frauen oder der Schwulen und die Freiheitsrechte und so, da ist schon einiges gelaufen. Aber im Großen und Ganzen hab ich gedacht, die Veränderung in Makrosystemen, irgendwelche steuerrechtlichen Sachen zu verändern, das bringt doch grad gar nichts. Und damals hab ich dann … wie hieß der nochmal? … der damalige Innenminister. Jetzt weiß ich’s wieder. Friedhelm Läpple hieß der. Und da weiß ich noch, wie ich damals gedacht habe, naja, das mag ja ein schöner bürgerlicher Beruf sein. Wie alt war ich da? Sechsundzwanzig oder so. Da hätte ich mir mit Dreißig schon das Familiengrab aussuchen können.
Das war für mich so ein Beispiel dafür, daß ich gedacht habe: Was soll das denn für eine politische Utopie sein? Jedenfalls hab ich dann gesagt, gut, jetzt könnt Ihr mich mit der Juristerei mal hintenrum heben und hab mich mehr auf die Soziologie gestürzt. Und dann hab ich Ursula Geißner kennengelernt und bin eigentlich durch Ursula von diesen Makroüberlegungen (habe lange Zeit Hegel gelesen usw.) weg und dann zu den Mikroüberlegungen und zur Mikropraxis gekommen, also zu Gruppendynamik, Kommunikation, Linguistik, ja, so war das.
Christiane: Wie hast Du Ursula Geißner eigentlich kennengelernt?
Herbert:Durch einen Zufall.
Christiane: … der Zufall schenkt uns die Geschichten…?
Herbert: Ich hatte ich mich damals ein bißchen in der katholischen Akademie in Trier engagiert. Und die haben in Saarbrücken auch ab und zu Seminare gemacht, für Schüler und Studenten. Ich hatte damals so eine Art Hilfsbremserfunktion bei denen. Ich bin sowieso häufig zu den Seminaren gefahren und weil ich da ein bißchen mit dazu gehörte, hab ich dann so Aufgaben gekriegt wie die Teilnehmerlisten, also Kursbegleiter, sowas in der Richtung. Dann hat die Ursula in Saarbrücken mal ein Thema gemacht „Rhetorische Kommunikation“. Dadurch habe ich sie kennengelernt. Da bin ich dann auch relativ schnell reingekommen. Sie hat dann gleich gesagt: komm, das machen wir zusammen. Ich sollte ja auch inhaltlich so ein bißchen mithelfen und bin so mit in den Staff reingerutscht. So hat sich das dann ergeben. Der zweite Durchgang, das Aufbauseminar, war in Trier. Da hab ich angerufen und gefragt, ob sie mit dem Auto mitfahren will, dann könnten wir uns die Fahrtkosten teilen… So war das dann, (lacht)… Zufall.
Aber inhaltlich war das dann für mich die Abkehr - oder sagen wir mal die Ergänzung von der reinen makrophilosophischen und makrosoziologischen und juristischen Sichtweise. Es ist ja letztendlich, zumindest wenn man Rechtswissenschaft macht, ein Makrosystem und nicht eine Situationsbeobachtung. Durch diese Ergänzung bin ich eben auf die Mikro- , oder zumindestens Mezzoebene gekommen. Und dann hat sich das alles so entwickelt, ja? Gruppendynamik erst und dann Situationsdynamik.
Christiane: Wie kam es denn dann zum Begriff Situationsdynamik? Wir hatten es eben von Deiner Soziologiearbeit über den Begriff des „Alltags“ und das Leiden an der Entfremdung, daß die Strukturen noch da sind, aber das Leiden an eineem sinnentleerten grauen Alltag… Man könnte ja auch so sagen: Alltag als Gegenbegriff zu den Feiertagen oder den Ferien oder sonst etwas… Aber das ist ja damit nicht gemeint, oder?
Herbert:Ja, nee… eben! Also, das ist für mich ein anderer Alltagsbegriff. Im Alltagsgebrauch hat man einen Alltagsbegriff, das ist sozusagen der „Werktag“ = „Alltag“. Mein Alltagsbegriff umfaßt aber Werktag, Ferien, Sonntag, Feiertag, sozusagen das ganze bürgerliche Einerlei, das ganze Kalenderjahr hindurch ist Alltag.
Christiane: Dann kann also schlicht alles „alltäglich“ sein?
Herbert: ja, genau, also auch Urlaub, natürlich graduell abgestuft. Natürlich gibt es im Urlaub veränderte Bedingungen und auch intentional: man will ja gerade etwas anderes! Und das könnten dann so Einstiegslücken sein, wie man aus diesem grauen Alltag raus kann. Und dann gibt es noch ein zweites Beispiel für diesen Zusammenhang. Das ist Karl Jaspers mit seinem Begriff der Grenzsituation, ja? Das hab ich damals zwar auch ein bißchen rezipiert, aber das war mir noch nicht so bewußt. Ob es das jetzt war? Das kann ich auch nicht mehr genau sagen, woher ich ausgerechnet das Wort Situation genommen hatte. Es hätte ja auch was anderes sein können: Moment, Ereignis oder ähnliches. Augenblick hätte es auch sein können.
Ernst Bloch habe ich damals auch gelesen. Der hat ja die Theorie vom Dunkel des gelebten Augenblicks. Aber ich habe weder Ereignis noch Moment noch Augenblick noch Kairos gewählt. Es gibt z.B. in der Theologie einen entsprechenden Begriff, der heißt Kairos. Ich kann mich nur noch daran erinnern, daß ich über diese Grenze von Österreich nach Deutschland rübergefahren bin, am Grenzübergang Salzburg. Das weiß ich noch ganz genau.
Christiane: ...auf dem Rückweg von dem Gruppendynamik-Training in Klagenfurt, von dem Du eben beim Essen erzählt hast?
Herbert: …ja, genau. Da hab ich hinter der Grenze die Ursula angerufen und hab gesagt: Du, diesen Paradigmenschwindel in der Gruppendynamik, da mach ich nicht mehr mit… Wenn man das Hier und Jetzt insgesamt beschreiben will, dann kann man nicht von der Gruppendynamik reden, sondern dann muß man von der Situationsdynamik reden.
Christiane: Damit hast Du dann ein potentiell viel größeres Hier-und-Jetzt ernstgenommen?
Herbert: Ja. Sagen wir mal, die unstrukturierte T-Gruppe hatten wir ja eben schon als Beispiel. Aber das Paradigma der Gruppendynamik war ja eben: was ist hier und jetzt los? Wenn die Trainer dann gesagt haben: Ja, sag doch mal! Wie geht’s Dir denn jetzt hier? Ist mir doch egal, was Du eben erzählt hast von Berlin oder von Klagenfurt oder von der Grenze bei Salzburg. Ist mir scheißegal. Sag mir mal, wie es Dir jetzt hier geht. Das war so ’ne typische Interventionsstrategie, ja? Und die Interventionen wurden dann auch manchmal hinterlegt mit mythologischen Geschichten, wenn man’s nicht gleich auf den Begriff bringen wollte und konnte. Zum Beispiel fällt mir jetzt gerade ein, weil ich eben das Bild hier an der Wand gesehen habe: ‚Du, weißt Du, mir geht’s hier wie dem Ikarus, wenn er sich rückwärts von der Sonne anstrahlen läßt und merkt, aha, jetzt fliegen mir die Federn davon und jetzt stürze ich gleich ab.’ So ungefähr hat sich damals Gruppendynamik angehört. Immer war die Frage und das Paradigma: ‚Wie geht’s Dir denn hier und jetzt?’ ‚Was ist denn hier und jetzt der Fall?’ ‚Was ist hier los?’ So in der Art…
Christiane: Dabei war aber klar, daß es nur um die Hier-und-Jetzt-Beziehungen und die individuellen Befindlichkeiten ging - und sonst nichts?
Herbert: Nein, sonst nichts! Also, wenn dann beispielsweise in so einem Tagungshaus mit dem Raum und seinen vier Wänden irgendwas nicht geklappt hat, ist mir aufgefallen, daß das plötzlich nicht Gegenstand des Prozesses war. Da war von der Stimmung her bestimmt ein Teil meines Counters mit drin. Aber wie dem auch sei, lassen wir das mal weg. Rein kognitiv ist auffällig gewesen, daß es hieß: Also, es gibt ein unstrukturiertes Plenum, eine unstrukturierte T-Gruppe.
Erste Frage: Ist das unstrukturiert? Ja oder nein? Haben wir eben schon gehabt.
Christiane: mhm, ist nicht unstrukturiert.
Herbert: Dann die zweite Frage: Es geht um das, was hier und jetzt der Fall ist? Und da war eben das Problem, daß das selektiert wurde, ohne daß es einer gemerkt hat. Denn es wurde auf das Hier-und-Jetzt der Beziehung geachtet, aber z.B. nicht auf das Hier-und-Jetzt, daß der Raum nicht geheizt war – oder daß der falsche Raum angesagt wurde. Warum eigentlich nicht? Und dann ist man ja bei der Sachdynamik.
Christiane: ... ja, könnte man meinen.
Herbert: Ein kalter Raum ist nun mal keine Beziehungsaussage. Wenn ich friere, gut, dann ist es eine Auseinandersetzung zwischen mir und der objektiven Temperatur, und nicht zwischen mir und Dir, ja?
Christiane: Man könnte den Trainer auch fragen: Warum läßt Du mich frieren?

Zu den Aspekten des Hier-und-Jetzt in der Situationsdynamik…

Herbert: Sicher gibt’s jetzt Analogien, wenn es heißt: unsere Beziehung ist so kalt, daß es mich fröstelt. Aber das ist ja nur eine sprachliche Analogie. Tatsächlich geht es um Kalorien, also um Raumtemperatur. Ist der Brenner an oder ist er nicht an? Das ist keine Beziehungsfrage, sondern eine technische. Und so bin ich darauf gekommen: Verdeppelt nochmal, wer verbietet mir als Teilnehmer hier und jetzt mal zu sagen: He, die T-Gruppe ist dadurch bestimmt, daß es hier einfach arschkalt ist in dem Raum? – Die Antwort der Trainer? Ja, jetzt red’ mal über die Beziehung! Was soll denn jetzt das hier mit der Temperatur? So, ja?
Und dann muß man wirklich sagen: Ja, mein lieber Freund und Kupferstecher, was soll es denn nicht mit der Temperatur? Wenn ich mir hier den Arsch abfriere, dann hat das doch nichts mit unserer Beziehung zu tun, sondern damit, daß ich mir den Arsch abfriere.
So, und dann kommt man schon mal über das Paradigma Beziehung hinaus. Natürlich, jetzt muß man sehen, da kann man dann instutionell etwas über Gruppendynamik lernen, auch, daß Gruppendynamik eben nur ein Forschungsauftrag war. Ja? Das kommt dabei schön heraus. Nämlich im vorgegebenen Rahmen. Das war ja der ursprüngliche Forschungsauftrag an die Gruppendynamik.
Die US-Navy war das erste Mal im zweiten Weltkrieg in der Lage, mehr als 14 Tage lang ununterbrochen mit den U-Booten zu tauchen. Und es ging um das Problem: können die Besatzungen das beziehungsmäßig aushalten? Und es ging nicht um die Frage, ob das U-Boot technisch in Ordnung ist. Grenzwertig war schon mal die Frage: Können die das denn beziehungsmäßig aushalten – und daraufhin das Sonar und das Tiefenruder usw. bedienen? Aber das war dann in der T-Gruppe ausgeschlossen. Warum war das ausgeschlossen? Ganz einfach, weil der Forschungsauftrag so war. Und das hat sich unbefragt in die damalige Gruppendynamik rübergezogen. Also es hat niemand die Frage gestellt: ja, warum reden wir hier nicht über die Temperatur der Räume? Ja, das war einfach so, auch unsere Lehr-Trainer waren so ausgebildet. Das war einfach so.
Christiane: Das fragt man nicht! Wir sind hier und jetzt nicht unter U-Boot-Bedingungen unterwegs, es gibt hier kein Sonar und auch kein Tiefenruder. Aber es gibt ganz sicher Temperaturen… und Druck und Kälte auch nicht zu knapp…
Herbert: Der Erstauftrag der US-Navy ging sozusagen an Kurt Lewin, der hat ja den Auftrag bekommen, damals, 1943. Der Auftrag hieß nicht: Und untersuchen Sie gleichzeitig, ob die Besatzung gut oder schlecht mit den technischen Bedingungen umgehen kann, z.B. unter der Bedingung von Sauerstoffmangel, wenn sie kurz vor dem Ersticken sind. D as war eben nicht der Auftrag, sondern es ging nur um die Beziehungsebene. Und ohne daß das reflektiert wurde, haben sie (in der Phänomenologie würde man sagen: diese Epochae) diese Art von Einklammern von allen möglichen anderen Gegebenheiten, ohne es zu merken, in die T-Gruppe reingeschleppt. Und ich in meinen Countergefühlen hab plötzlich - ach Gott, nee, ich hätte das damals garantiert nicht so sagen können wie jetzt, ja? - ich hab das irgendwie gerochen: Was soll ich denn hier über irgendwelche Pseudobeziehungen sagen, wenn’s mir zu kalt ist oder wenn ich auf dem Stuhl nicht sitzen kann. Dann geht’s mir um den Stuhl, Herrgott Sakrament noch mal! Und die Beziehungsebene wäre dann höchstens die, daß ich sag: Warum versteht Ihr denn nicht, wenn ich Mensch mit meinem gesunden Menschenverstand mit meinem Wunsch, daß mir der Rücken bitte schön nicht weh zu tun hat, das mal hier gefälligst thematisiere? Warum versteht Ihr nicht, wenn ich frage, welches Arschloch von Euch Lehr-Trainern hat sich darum nicht gekümmert? Und dann könnt Ihr das von mir aus auf der Beziehungsebene ausdiskutieren. Und dann war aber: oh oh, bleib mal ganz bei Dir!
Christiane: lacht… Ich erinnere mich, solche Beiträge werden einem dann sofort als Abwehr gedeutet.
Herbert: Ja, genau. Du merkst also, wenn man sich jetzt da rein denkt, wenn wir jetzt ein Glas Rotwein Vorsprung hätten, dann käme ich so richtig in die entsprechende Betriebstemperatur. Dann würde ich Dir das noch länger erzählen… Auf jeden Fall, aus solchen Überlegungen heraus, hatte ich damals immer das Gefühl, die psychologisieren alles. Ich war damals noch frischgestylter Reserveoffizier und war froh, zum ersten Mal ’ne Kompanie zu leiten, also so richtig tough drauf, ja? Und diese Schlaffies da, die noch nicht mal ’ne Kompanie antreten lassen können!’ hab ich immer zu Ursula gesagt. Am Anfang hat sie sich immer totgelacht, wenn ich das gesagt hab’. Und ich hab die einfach verachtet, weil sie so untüchtig waren, diese Leute…
Christiane: Wer war untüchtig? Die Trainer oder die Teilnehmer?
Herbert: Wenn du so fragst: Alle! Lacht. Der ganze Haufen da, diese Psychofreaks.
Christiane: War Richard Timel da auch schon dabei?
Herbert: Nee, den hab ich viel später erst kennengelernt. Richard gehört dann erst später in die Phase der systemischen Arbeit. Er war für mich eher der Ausbilder im Bereich Organisationsberatung. Und das waren damals die allerersten Renner. Das hat sonst kein Mensch in Deutschland gemacht. Systemisch? Das hat man gerade mal in Italien bei der Familientherapie gehabt, Mara Selvini Palazzoli. In Deutschland systemisch arbeiten? Das gab’s überhaupt noch nicht. Wir waren die ersten, die das gemacht haben hier in Deutschland.
Christiane: War da nicht schon Stierlin damals mit seinem famlientherapeutischen Institut in Heidelberg und seinen Schülern wie Fritz Simon und…
Herbert: Fritz Simon, der hat damals noch in die Bux gemacht.
Christiane: Der ist aber auch nicht jünger als Du, oder?
Herbert: Die haben etwas später damit angefangen, in den 80er-Jahren. Ende der 70er-Jahr waren die vielleicht schon in Ausbildungsgängen oder so. Aber die ganze Heidelberger Schule ist ja erst nach uns gekommen, wenn auch nicht viel, aber doch ein Stück nachher.
Christiane: Und wie bist Du zu Richard Timel gekommen? Er war doch auch Trainer bei den Österreicher Gruppendynamikern, oder? Und die haben doch irgendwann ausdrücklich den Paradigmenwechsel von der gruppendynamischen hin zur systemischen Gruppenarbeit vollzogen. Oder irre ich mich da?
Herbert: Doch, das stimmt schon. Durch den veränderten Blickwinkel von der einzelnen T-Gruppe zum Intergruppenprozess. Das war die Brücke. Wir haben die ersten Laboratorien gemacht. Das hieß ja früher „Lab“, Laboratorium. Und da ging es um Intergruppenprozesse, und auch das haben die aus Amerika mitgebracht, ja? Also der Weg war wie so oft nach dem zweiten Weltkrieg: USA, Österreich, Deutschland. Oder USA, Niederlande, Deutschland. Das waren die beiden Importwege. Und so in diesem Fall auch.
Und da waren die Österreicher den Bundesdeutschen, auch der Bundesdeutschen Gruppendynamik, um Meilen voraus. Die damalige DAGG, die haben eine rein individualpsychologische Gruppendynamik gemacht, also nach diesem Dingsbums: ‚Wie geeeht’s Dir denn?’ ‚Also ich für mich…’ Dieser Jargon.
Das war ja der Grund, warum ich in Österreich die Trainer-Ausbildung gemacht hab und nicht hier, weil das hat mich mega angekekst! Und, gut, da hab ich ein gutes Feeling gehabt. Zu der Zeit haben auch Luhmann u.a. angefangen zu schreiben und daß der Luhmann dann so weit gegangen ist, zu sagen, aus der Sozialstruktur hat der Einzelne gefälligst rauszubleiben. Und die Österreicher sind schon ein bißchen in die Richtung gegangen. Die haben das nicht so individualisiert, sondern da ging es schon immer um Beziehungen, ja? ‚Was haste denn gegen mich?’ ‚Sag doch mal, was Du gegen mich hast.’ Oder: ‚Ich sag Dir, was ich gegen dich hab oder was ich für Dich hab.’ …Nähe und Distanz, Erotik und Wünsche… Und: ‚Weisste, am liebsten hätte ich, wenn Du hier verschwindest!’ Solche Sachen, gell? Das wäre hier in Deutschland nicht möglich gewesen, die haben ja die Österreicher immer für brutal erklärt: Das kann man doch nicht sagen! Du, bleib mal ganz bei Dir!
Christiane: Hast Du bei denen auch was gemacht?
Herbert: Bei den Deutschen? Ja, aber mehr zum Schnuppern. Wie man heute so sagt, um zu gucken, ob das was ist. Also, ich will das nicht abwerten. Ich will nur sagen, das ist ein anderer Stil, der individualpsychologisch, ohne daß man das Paradigma Individuum letztendlich überwunden hat, sagt, man würde Gruppen trainieren. So. Und die Österreicher haben das Paradigma Individuum eigentlich überwunden und haben wirklich Gruppen trainiert, allerdings nur auf der Beziehungsebene, ja? Und ich hab daraufhin auf der ersten Ebene wieder versucht, das Paradigma zu erweitern, indem ich gesagt hab: das IST aber nicht die vollständige Situation.
Gerade am Beispiel Jurastudium kann man das sehen: Ich hab immer argumentiert mit dem Jugendgerichtsprozess. Wenn eine Jugendrichterin, die halt gefühsmäßig mehr dabei ist als ein männlicher Richter, einen jungen Angeklagten z.B. ganz gut leiden kann und eigentlich meint, ach, der hat doch Superprognosen und das machen wir jetzt mal so und so… Wenn sie dann das Jugendgerichtsgesetz oder auch die Verfahrensordnung nimmt, dann steht da drin: Zick zack zoll! Jetzt kann kann sie tausendmal ins Urteil hineinschreiben: Ich kann den gut leiden! Das hat überhaupt keinen Sinn, sondern hier und jetzt, im juristischen Verfahren, gilt das, was im Gesetz steht. Ende der Durchsage!
So, was willst Du da mit diesem eingeengten Paradigma: es geht ausschließlich um die Beziehung? Es geht um die Beziehungssachen, ist ja auch voll okay, ich mache das ja auch, ja? Aber es geht nicht ausschließlich darum. Und daraufhin kommt man jetzt zu der Aussage:
Es geht auch um die Beziehung, es geht auch um das Ich, die Individualpsychologie Deutschland, es geht auch um die Raumtemperatur und dieses und jenes. Und es geht auch um die juristischen deontologischen Gegebenheiten: muß ich den jetzt verknacken, ja oder nein?
Und damit hat man eigentlich schon die vier situationsdynamischen Prozesse oder Aspekte, die zusammenlaufen. Und dann kam noch Prozess Nummer Fünf dazu: Wenn es schon diese vier verschiedenen Aspekte gibt, wie spielen die dann wiederum zusammen? Also, kann man die jetzt wieder als Einzelne auflösen? Oder entsteht daraus so etwas wie eine Vierersuppe? Ich mache vier Bestandteile in eine Suppe, die kann ich aber nicht mehr zurücknehmen, ja? Wenn ich jetzt Wasser, Maggi, Salz und Bohnensaft da drinnen habe, dann wird das eine Suppe, eine Melange, wie die Österreicher sagen, ein Amalgam wiederum. Und ich kann es nie mehr trennen. Wenn ich mal Milch in den Kaffee gemacht hab, krieg ich das nie mehr auseinander.
So, diese Entscheidung für eine Melange oder ein Amalgam ist nicht meine Entscheidung. Sondern in der Situationsdynamik bemühe ich mich geradezu, diese vier Logiken als Einzellogiken konstant zu halten.
Also bearbeite ich die Beziehungslogik als Beziehungslogik und nicht als eine Melange von Sache, Beziehung, Individualprozess und Intention. Sondern ich bemühe mich geradezu darum, die vier Prozesse eigenlogisch zu entwickeln.

Die Vielfältigkeit des Phänomens „Situation“

Herbert: Und daraus entsteht das Thema, wenn man versucht, das Phänomen Situation als System zu beschreiben: Dann würde ich nie sagen, das Phänomen Situation ist ein soziales System. Sondern ich würde sagen: Es ist auch ein soziales System, sofern es Beziehungen sind, aber es ist auch ein psychophysisches System, sofern es die Leibhaftigkeit angeht. Und es ist auch ein technisch-sachliches System, sofern es von mir aus die Raumtemperatur angeht. Und es ist auch ein deontologisches System, sofern es die Juristerei oder die Normen oder die Zielsetzung, die Zwecksetzung usw., die Ethik betrifft, alles, was man so unter Deontologie subsumieren kann – und das nenne ich eben die Intentionalität.
Christiane: Sagst Du was zu Deontologie? Ich glaube, der Begriff ist allgemein nicht so gebräuchlich…
Herbert:Deontologie ist eigentlich die Logik des Sollens, wenn man so will. Nehmen wir mal an, Du tust Dir jetzt eine Zigarette drehen, das ist ’ne Sachlogik, d.h. ich muß zuerst das Papier aufmachen, dann den Tabak rein, dann anfeuchten, zudrehen und dann kann ich sie anzünden. Und es ist logisch gesehen etwas gaga, wenn ich versuche, es anders zu machen…
Christiane: Andersherum würde jedenfalls keine Zigarette daraus…
Herbert:Ja. Es liegt - wie es in manchem philosophiegeschichtlichen Zusammenhang heißt - in der Natur der Sache. Es ist einfach so. Es geht sonst gar nicht. Im Unterschied dazu, und da ist eine gewisse Prozesslogik drin, im Unterschied zum Sollen ist das für logische Sachen viel flexibler. Ich kann Gebote und ethische Schritte, wenn ich will, auch anders gruppieren, oder? Es gibt nur ganz wenige, wie z.B. das Kohlbergschema oder andere, die aus der Entwicklungspsychologie ableiten, wie die moralische Kompetenz angeblich… also, ich halte von dem Kohlbergschema gar nichts.
Christiane: Aha, worauf will das Schema letztlich hinaus? …
Herbert:Das ist eine ziemliche Ideologie, aber wie dem auch sei, gerade dieses unheimlich flexible Sollensthema, die Ethik, was ist die Logik einer Ethik? Normalerweise würde man sagen: Gut und Böse hat doch keine Logik. Das sind Setzungen, ja? Aber die Deontologie sagt: Ja, Moment mal, da gibt’s sehr wohl eine Logik. So, das ist so dieses ganze Gebiet, was ich da eben skizziert hab. Also ich arbeite jedenfalls dran oder ich streite in gewisser Weise dafür, daß das eine eigenständige Sinngebung der Situation ist. Und dadurch unterscheidet sich SD ja von anderen wie z.B. der TZI (Themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn). TZI hat das „Ich“, „Wir“ und das „Es“, gemeint als Sache, darum herum den „Globe“. So, das Ich, das Wir und das Es als Sache hat die Situationsdynamik auch, aber als viertes die Intentionalität. Das ist das eigentliche Kampffeld zwischen den Modellen.
Christiane: Die Differenz mit oder ohne Intentionalität kann ich gut nachvollziehen, seitdem ich mal bei einem sehr bekannten TZI-ler im Odenwald ein Seminar erlebt hab’, mit einem Kollegen zusammen, als wir vor 10 Jahren anfingen, die interkulturellen Lernsysteme aufzubauen. Ich habe beobachtet, daß sich immer wieder das selbe abspielte und vermutete schon damals, es liegt daran, daß Intentionalität in der TZI kein Thema ist. Es haben sich immer wieder rekursive Prozesse entwickelt, die sich allein auf der Beziehungsebene abspielten, in denen es nur darum ging: Wer darf/ soll intervenieren und z.B. sogenannte „Störungen“ anmelden – und wer nicht? Es blieben immer die Leiter dafür verantwortlich. Intentionen von Teilnehmenden und Leitern wurden nicht beobachtet, waren wie nicht existent.
Herbert: Es wildert da richtig herum… Ich hab da ein Beispiel, nämlich diesen berühmt berüchtigten Satz: „Be your own chairman“. Und dann gibt’s diese andere bekannte Regel: „Störungen haben Vorrang“. Nach meiner Meinung ist das ein Zeichen für die Verwilderung der Intentionalität, die da nicht kultiviert wird. Ich hab ganz viele Studenten, die TZI-orientiert sind, die Pflegepädagogen, die kommen dann immer rein und haben ihre Sprüche drauf. Watzlawick sagt: wir können nicht nicht kommunizieren, und Ruth Cohn sagt: Störungen haben Vorrang. Es macht mir immer einen Heidenspaß, mich mit denen anzulegen über dieses Geschwätz. Watzlawick tu ich ganz anders interpretieren. Ruth Cohn nenne ich nicht Geschwätz, aber da scheint mir doch ein blinder Fleck zu sein. Den kann man z.B. erkennen mit der ganz einfachen Frage: ja, wer definiert denn, ob ein und derselbe Satz nun eine Störung oder ein kommunikativer Beitrag ist? So, und dann stellt sich heraus, ja, letztendlich definiert es der Trainer. Es gibt manche TZI-Kollegen, mit denen ich auch darüber diskutiere, die sagen, nee, das ist ein Mißverständnis. Jeder einzelne definiert das, aber das ist nur eine Verschiebung des Problems…
Christiane: Wenn dieses so genannte „Mißverständnis“ immer wieder passiert, müßte man doch irgendwann mal darauf aufmerksam werden. Aber es handelt sich in der TZI eben auch um ein vorgefertigtes methodisches Konstrukt.
Herbert: Ja. Und was ist eigentlich eine Nicht-Störung? „Wenn Störungen Vorrang haben“, gerade heute habe ich einen Text darüber geschrieben. Wenn Störungen Vorrang haben, dann muß man fragen, was hat denn dann Nachrang? Bei den Juristen gibt’s den Begriff der Nachrangigkeit. Hört sich vielleicht ein bißchen komisch an, aber was hat denn dann Nachrang, wenn Störungen Vorrang haben? Und wer definiert den Vorrang und den Nachrang? Und das ist, ich will es jetzt mal freundlich sagen, das ist nach meiner Meinung ein ungelöstes Problem in der TZI. Und ich interpretiere es so, daß denen einfach da eine Institution fehlt und zwar die, die ich Intentionalität nenne. Das vierte Feld ist einfach verkümmert.
Christiane: Und die Teilnehmer sind, würde ich sagen, zu 99,9% klug genug, dieses „Mißverständnis“ dann wieder zu delegieren und zwar an die angeblich gleichrangig partizipierende Leitung. Es gibt ja in der TZI im Unterschied zu Situationsdynamik auch eine Menge Verfahrensregeln und Setzungen. Ich vermute, diese Setzungen sind dazu da, um die Intentionalitätslücke zu füllen. Die Prozesse entwickeln sich nach meiner Erfahrung jedesmal dependent. Und dabei bleibt’s dann. Dieser TZI-Gruppenleiter, mit dem ich damals lange darüber diskutiert habe, sah das auch und hat gesagt: Ich versteh nicht, wieso das immer wieder passiert. Ich hab ihm dann ein bißchen erzählt von SD und daß wir im Grunde mit anderen Voraussetzungen arbeiten, mit dem intentionalen Prozess in der Situation und nicht über pädagogische Setzungen, sondern eben mit der Intentionalität an sich.

Fortsetzung in "Die Intentionalität wirkt sich aus"
 
 
 
 
Lektorat:

Herbert Euschen, Lehr-Trainer (SD), Lehr-Supervisor (SD) und Organisationsberater (SD)

Transkription und Textbearbeitung:

Christiane Schmidt, Supervisorin (SD), Trainerin (SD)