Die reformistische Alternative

 

Überlegungen im Anschluss an Herbert Euschens versteckten Aufruf

1. Es ist schwierig zu entscheiden, ob zum Begriff der Alternative die Radikalität gehört: beinahe mag es so scheinen, wenn ich z.B. auch bei Herbert lese: "endgültige Aussteiger" und "Zurückgekehrte", Entweder-Oder. Das entspricht auch den Erfahrungen, die ich selbst mache, nicht nur im iael. Eine Alternative suchen, heißt erstmal radikal in Frage zu stellen, etwas ganz anders machen, keine Kompromisse, so als ob in der Alternative nix mehr vom Alten drin sein dürfte.
(Erläuterung: Die bis Ende der 1980er-Jahre neben der 1985 gegründeten "Deutschen Gesellschaft für Situationsdynamik e.V." weiterhin aktive kollegiale Gruppe und Herausgeber der Vorläufigen-Texte war das "iael", das "Institut für alternative Erwachsenenbildung e.V.")

1.1 Jede alternative Bewegung braucht m. E. allerdings Radikalität und Kompromißlosigkeit, um überhaupt erstmal sich selbst und etwas in Bewegung zu setzen.

1.2 Das Problem fängt an, wenn tatsächlich etwas in Bewegung gerät - die Institutionenkritik greift - egal auf welcher Ebene. Dann entstehen auf der Seite der Alternativen Ängste vor Institutionalisierung.

1.3 Institutionalisierung scheint dem Begriff der Alternative zu widersprechen und doch kommt sie an ihr nicht vorbei. Das tut dem Alternativen Bewußtsein weh, wie man an den Grünen und dem iael sieht.

2. Dabei bin ich - schließlich - zu der Ansicht gekommen, daß, wenn es um neue Institutionalisierungen geht, die Arbeit erst anfängt. Denn jetzt geht es um Konkretionen: die Alternative lebbar zu machen.

2.1 Auf individueller Ebene ist da einiges passiert, wie auch Herbert schreibt, aber schwierig wird es auf der Gruppenebene, und dann erst auf der des Gemeinwesens oder gar der großen Politik!

2.2 Die Alternative sozialisieren bedeutet, mehr noch als bei dem persönlichen anderen Leben vom "alten" Menschen einiges (vieles) in die Alternative mitzunehmen, das andere - die Alternative zu meiner Alternative zu akzeptieren.

2.3 Zu akzeptieren zumindest, dass es sie gibt und zu unterstellen, dass sie auch ernsthaft um Verstehen der Situation bemüht ist. Zum Leidwesen der Alternativen aber verschwimmen so notwendig die Fronten.

2.4 Daran gewöhnt, sich hauptsächlich in Abgrenzung von etwas zu identifizieren, macht es den Alternativen Mühe zu akzeptieren, daß sie (auch) Definitionsmacht haben (könnten). Tatsache ist, daß viel im Fluß ist (anything goes).

3. Die politische Sozialisation spielt m. E. eine große Rolle. Komischerweise hat sie im iael nie eine solche inne gehabt; ich interpretiere das so, dass wir als Kirchenarbeiter unsere Energien zunächst an die Auseinandersetzung mit der Institution Kirche gebunden haben. Und im Politischen hätten wir vielleicht auch einen weniger großen gemeinsamen Nenner gefunden. Indem wir die praktische Politik ausgeklammert oder doch irgendwie zur "quantité negligéable" gemacht haben, sind wir sicher Konflikten aus dem Weg gegangen und haben Möglichkeiten noch nicht genutzt, zu einem präziseren Begriff der Alternative zu gelangen.

3.1 Vielleicht ist das auch eine Anwandlung des Jubiläums (1968 - 1988), aber ich bin mal wieder auf die Idee gekommen, mir meine politische Sozialisation anzuschauen. Aus wachsender Entfernung wird das immer interessanter. Ich habe dabei bemerkt, daß ich (unbefragt) mehr politische als religiöse Glaubenssätze mit mir herumgetragen habe (ich will nicht sagen damit, daß das nicht zusammenhinge!). Im Einzelnen will ich mich an dieser Stelle nicht darüber auslassen.

3.2 Vielleicht würden wir in Bezug auf die Alternative weiterkommen, wenn wir die politischen Mythologien explizit in die iael-Arbeit einbeziehen. Ich glaube, daß da noch wichtige Erfahrungen blockiert sind.

4. Die Alternativ'ler sind out, aber Alternativen sind nötiger denn je. Besser als in der BRD erlebt sich das vielleicht wirklich in Italien, wo die Reform so weit gegangen ist, daß jetzt die Ex-Außerparlamentarisch-Aktiven alle Hände voll zu tun haben, die von der Reform geschaffenen Räume zu füllen.

5. Es tut mir leid, Euch hiermit nur ein Gedankengerüst mit noch wenig Fleisch dran vorzuführen. Ich habe beim Schreiben manchmal mehr an die Alternative im Allgemeinen, manchmal mehr ans iael gedacht. Im übrigen kam es mir darauf an, Aspekte hervorzuheben, die bei Herbert nicht so vorkommen.



aus: "Vorläufige Texte", "Die Reformistische Alternative", S. 3 f., Münster, 1988

Maria Hampel, Theologin, Supervisorin und Organisationsberaterin (DGSD)