Zeitgeist der 1968er - SD im Wandel ...

Während die selbstorganisierten SD-Vorläufergruppen Ende der 1970er-Jahre und zu Beginn der 1980er-Jahre an einem Modell von Situation arbeiteten, das weder die Beobachtung noch die Interpretation des Lebens einengen sollte, wurden auch sie von der nicht zu unterschätzenden Kraft weltweit politisch in Bewegung geratender Institutionen beeinflusst, mit bewegt und weitergetragen. Sowohl dieses Situationsmodell mit der interdependenten Verknüpfung seiner vier Aspekte als auch die daraus folgenden didaktischen Konsequenzen wären ohne die Vielzahl gesellschafts- und bildungspolitischer Kontroversen dieser Zeit wohl nicht in der später praktizierten Form und Konsequenz entstanden. Dazu einige Ausschnitte aus den zeitgeschichtlichen Schilderungen des v a. soziologisch beobachtenden Zeitzeugen Oskar Negt.

Zeitgeist der 1968er von und mit Oskar Negt

"... Da tritt plötzlich eine Generation in Erscheinung, die allem widerspricht, was ihr politisch und in empirischen Untersuchungen attestiert wurde. Diskussion, der rhetorisch inszenierte Wortstreit (in Deutschland als parlamentarische Schwatzbude verachtet), erhält einen hohen Rang, Selbstverwirklichung und Internationalismus gelten als gleichrangige Ziele, die Politisierung des Privaten steht neben Organisationsformen direkter Demokratie... Es ist ein beziehungsreicher, die Offenheit eines Prozesses gewinnender Anfang. Im Bereich der Erziehung, in der Sensibilität für Verletzungen der menschlichen Integrität und für Proportionen der Lebenswelt, überall dort, wo das Verhältnis von Politik, Moral und Macht öffentlich thematisiert wird, sind Wirkungen der 68er-Bewegung bis heute spürbar.

Die politisch kulturelle Sozialisation der Menschen, Urteilsfähigkeit und Widerstandsgeist sind es schließlich, worin sich die größten Wirkungen und Nachwirkungen der 68er-Bewegung zeigen. Da ist zunächst die Form der Öffentlichkeit zu nennen, die politische Erweiterung des Ausdrucks menschlicher Interessen und Bedürfnisse. Die Demonstrationsöffentlichkeit stand 68 im Blickfeld der Medien; aber unterhalb dieser offiziellen Ebene, im Unterholz der praktizierten Lebensentwürfe, hat sich ein differenziertes Spektrum alternativer Öffentlichkeiten herausgebildet... Auch der Begriff der Politik hat sich im Verlauf der vergangenen drei Jahrzehnte geändert.

Dass Politik sich von den Lebenszusammenhängen der Menschen, der Basis nicht trennen könne, dieser Grundsatz ist eine Fernwirkung der 1968er-Bewegung. Wie ein Pfahl im Fleische sitzt dieses Jahr in der offiziell immer noch als wohlgeordnet geltenden Gesellschaft der Bundesrepublik (auch ihrer glücklos erweiterten Gestalt), die längst ihre normalen geschichtlichen Bewegungsrhythmen zurückgewonnen hat.

Das Jahr 1968 öffnet die Geschichte für Augenblicke, es ist ein in jeder Hinsicht anstößiges Jahr, das Anfänge und Hoffnungen setzt. Aber auch die Niederlagen und die enttäuschten Erwartungen gehen in jenes kollektive Gedächtnis ein, das, je entfernter die Originalereignisse liegen, immer straffer im Sinne der gegenwärtigen Realitätsanpassung zurechtgestutzt wird." (s. 1)

Situationsdynamik und Zeitgeist im Wandel ...

Seit Beginn der 1990er-Jahre konnte man beobachten, dass sich sowohl die Öffentlichkeit als auch viele der damaligen Protagonisten weitgehend enttäuscht und mit teils bitterer Kritik von den Ideen der 1968er abwandten. Nach vielleicht allzu idealistischer Hinwendung folgte eine ebenso extreme Gegenbewegung mit der Gefahr, nun alles ad acta zu legen, was damals kritische Zeitgenossen entwickelt hatten.

Viele der Enttäuschten erlebten z. B. das in den End-1970er- und wiederum in den 1980er-Jahren heißdiskutierte Konzept der Selbstorganisation allenfalls als utopische Idee, aber nie als greifbare, realisierbare Alternative zur vertrauten hierarchischen Organisation. Vieles wurde zwar diskutiert und theoretisch fundiert durchdacht, jedoch wenig oder gar nicht experimentiert und somit nicht wirkungsvoll praktiziert.

Zu viele Menschen retteten sich aus dieser Bewegung heraus ins Vertraute und Private. Die Pflege der Individualität schien Freiheit zu versprechen, drohte jedoch letztlich im schal werdenden Trost erfüllter Eigen-Interessen zu versanden, die keine Vision eines tätigen, verantwortlichen sozialen und politischen Lebens transportieren können. Dazu passt auch eine m. E. zunehmende scheinbare Akzeptanz gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse seit den 1990er-Jahren, die sich in politischem Desinteresse bzw. einer Apathie äußert, deren Ausmaße sich phasenweise deutlich in rückläufigem öffentlich politischem Engagement und auffallend geringer Wahlbeteiligung zeigten.

Man kann es nicht ändern. Das Instrument oder die Führungsperson, die den wie auch immer ersehnten Durchbruch nicht nur verspricht, sondern auch erfüllt, ist noch nicht gefunden - bzw. noch nicht gebacken. Also kann man da wohl nichts machen und kann sich weiterhin beklagen, denn die Verantwortung für ausstehende Veränderungen, die nicht stattfinden, bleibt ja bei den anderen. Es lebe die Lethargie?

Situationsdynamisch ausgebildete BeraterInnen, TrainerInnen und SupervisorInnen erlebten im Gegensatz dazu fortlaufend selbstorganisierte Lernprozesse in ihren Lernsystemen. Sie erlebten sie am eigenen Leib. Auf diese Weise wurde die lehrende Absicht verwirklicht, das Selbst-Organisationskonzept nicht als theoretisches utopisches Modell zu diskutieren, sondern für die innerhalb der Ausbildungs-gänge selbst realisierten Organisationsformen auch die Verantwortung zu übernehmen. Daraus resultierte im Wesentlichen vor allem ein Erkennen von Verantwortlichkeit für die eigene, jeweils deutende und Schlüsse ziehende Erkenntnis-Brille und die Bereitschaft, die Konsequenzen bzgl. des eigenen Tuns und Nicht-Tuns zu tragen.

Trotz der formalen Institutionalisierung ihrer Ausbildungsgänge in der DGSD e. V. blieb das Prinzip der Selbstorganisation in ihren Lernsystemen einer der tragenden Pfeiler in allen Ausbildungen. Die Praxis als gelebtes Lehren und Lernen, als Übung, gilt aus SD-Sicht für BeraterInnen und TrainerInnen als wesentlicher bildungspolitischen Pfeiler ihres agogischen Handelns.

Das bedeutet letztlich: die Verantwortung für das eigene Handeln in sozialen Systemen kann nicht an andere abgetreten werden. Die Bedingungen werden nicht nur von außen diktiert, die Einzelnen stricken auf je ihre Weise an aktuell produzierten Strickmustern mit. Selbst- und Fremdbeobachtung in Lernsystemen zwingt durch weitgehende Selbstorganisation der Trainerausbildung und selbstorganisierende Anteile in allen SD-Ausbildungsgängen zu einer Wachheit, die fortwährende Kurskorrekturen ermöglicht.

Die Praxis der Selbstorganisation führt im Idealfall zu fortgesetzten Lernprozessen bereits lehrender, therapierender und beratender Profis, z. B. in selbst organisierenden kollegialen Gruppen, die auch über beendete Ausbildungsprozesse hinaus Bestand und Gewicht behalten. Von solchen selbstorganisierenden Profi-Lernprozessen profitieren nach meiner Erfahrung auch deren KlientInnen-Systeme. Ein experimentierendes Einsteigen in verschiedene selbst organisierende Aktivitäten in deren Institutionen ist nach meinen Erfahrungen ebenso zu beobachten wie ein stärkeres und stabileres (nicht idealisiertes) soziales Engagement in Arbeitsbeziehungen, ein höheres Maß an wahrgenommener Eigenverantwortung und eine damit einhergehend gesteigerte Konflikt- und Kooperationsbereitschaft.

Wachsen in den beratenen Subsystemen (Abteilungen oder Teams) Selbständigkeit und kritisch reflektierte Eigenverantwortung, wird das im größeren organisationalen Kontext durchaus bemerkt. Stärkere und/oder veränderte Eigenbewegungen eines Subsystems erzeugen Reibungswärme zwischen benachbarten Subsystemen. Um es bildlich zu fassen: Umwelten wachen zwangsläufig auf, wenn sich die Nachbarwelt plötzlich zu bewegen beginnt. Man reibt sich womöglich verwundert die Augen - und beginnt zu fragen: Ja, was ist denn mit Euch los? Selbst organisierende Energie kann ansteckend wirken. Darin liegt auch laut Schattenhofer eine nicht zu unterschätzende organisationale Entwicklungs-Chance.

Allerdings fordert die Praxis selbst organisierender und selbstreflexiver Organisationsformen einen gewissen zusätzlichen zeitlichen und persönlichen Einsatz von denjenigen, die mit diesem Prinzip arbeiten. Ohne Fortsetzung prozessreflektierender Gespräche, die Anstöße, Anregungen, auch Verstörungen, unerwartete Blickwinkel und neue Ideen hervorbringen können, ist zu erwarten, dass das bisher Erreichte auf dem sehr bald alten Stand einfriert.

Zu solchen Investitionen sind angesichts befürchteter oder tatsächlich eintretender wirtschaftlicher Engpässe leider immer noch nur wenige Menschen und Organisationen bereit, sofern ihnen dieses Engagement keinen unmittelbar erkennbaren Profit verspricht. Rechnungen dieser Art mögen zwar betriebswirtschaftlich nachvollziehbar sein. Jedoch ist in solchen Überlegungen, die zu rein betriebswirtschaftlich motivierten Spar-Konsequenzen führen, leider keine Rede davon, dass mit dem Wegfallen von Investitionen in die Alternative auf die Dauer die Alternative selbst wegfällt. Nur die praktizierte Alternative ist eine Alternative. Und für das Praktizieren bzw. für das Nicht-Praktizieren seiner Alternativen ist und bleibt jeder Einzelne verantwortlich, vor allem dann, wenn man aus eigener Erfahrung weiß, dass Selbstorganisation immer noch die wirkungsvolle Alternative zu vertrauten hierarchischen Organisationsformen ist. (s. 2)


aus: "Situationsdynamik - Guck doch mal, wie Du guckst! Wer situativ beobachtet, weiß weniger und sieht mehr...", S. 23 ff., Saarbrücken, 2011  

Christiane Schmidt, Supervisorin (SD), Trainerin (SD)


1. Oskar Negt, „Achtundsechzig, Politische Intellektuelle und die Macht“, Göttingen, 1998, S. 13 ff.
2. Literatur-Empfehlung: Schattenhofer, Karl, „Selbstorganisation und Gruppe, Entwicklungs- und Steuerungsprozesse in Gruppen“, Opladen, 1992