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Sachlogik und Sachdynamik
In der Anfangsphase der Kommunikation einer Gruppe kann man das potentiell unterschiedlich theoriegeleitete
Handeln der Anwesenden noch nicht deutlich erkennen. Wenn im Kommunikations-Prozess einer Gruppe also die Sachdynamik zum Tragen kommen soll, ist
es erforderlich, theoriegeleitetes Handeln aller Beteiligten zunächst einmal hörbar und wirkungsvoll in die Kommunikation der Gruppe zu bringen.
Ob das gelingt, kann man daran erkennen, inwiefern eine wachsende Sensibilität für differente oder übereinstimmende Sachauffassungen
(Sach- bzw. Erklärungslogiken) zu beobachten ist und auf welche Weise geäußerte Sachlogiken dann wahrnehmbaren Einfluss auf den laufenden
Kommunikations- Prozess nehmen. Wenn solche Phänomene beobachtet werden können, spricht man von Sachdynamik.
Auch die sachlogische Basis der SD beruht u. a. auf systemtheoretischen (insbesondere konstruktivistischen) Denkansätzen und folgt auch hier der
biologischen Erkenntnistheorie der Neurobiologen Maturana und Varela. Aus ihrem Werk „Der Baum der Erkenntnis“ wurde bereits zitiert. So könnte man
auch in diesem Kontext von der grundlegenden sachlogischen Prämisse ausgehen:
Kommunikation mit Konzentration auf die Sachdynamik der Situation dient dazu, potentielle Vielfalt (oder Einfalt)
denk- und lebbarer Möglichkeiten, sich die Welt zu erklären, nicht von vorn herein durch vorausgesetzt „objektiv Richtiges“ zu begrenzen. Sie
dient ganz im Gegenteil dazu, jegliches Erkennen als beobachterabhängiges Geschehen zu erkennen. Die an einem solchen Prozess Beteiligten
können also beobachtender Weise lernen, „wie das Erkennen die Erklärung des Erkennens erzeugt. Erkennen hat es nicht mit Objekten zu tun, denn
Erkennen ist effektives Handeln; und indem wir erkennen, wie wir erkennen, bringen wir uns selbst hervor.“ (s. 1)
In der Situation nährt sich Sachdynamik aus den Theorien, Modellen und Erklärungen, die von den Beteiligten zur Erklärung ihrer Sache(n)
hier und jetzt kommuniziert werden. Sachdynamik kann also auch nur im Hier-und-Jetzt, situativ beobachtet werden. Sachdynamik zeigt sich dann als
zunehmend spürbare Bewegung und beschreibbare Qualität im Verlauf des beobachteten Kommunikations-Prozesses. Dabei wirken alle beteiligten Personen
gleichermaßen strukturierend auf die sachlogisch fokussierte Kommunikation ein.
Damit leitende Personen im Sinne angewandter SD der Gruppe dienen können, Sachlogik(en) zu erfassen und die potentielle Tiefe der
Sachdynamik ihrer Situation zutage zu fördern, benötigen sie ihrerseits fundierte Beobachtung bzgl. ihres theoretischen Verständnisses und eine
reflektierte sowie flexible Haltung bezüglich ihres eigenen Erkennens und Erklärens.
Dazu noch einmal
Maturana und Varela: „Die Erkenntnis der Erkenntnis verpflichtet. Sie verpflichtet uns zu einer Haltung ständiger Wachsamkeit gegenüber der
Versuchung der Gewissheit. Sie verpflichtet uns dazu einzusehen, dass unsere Gewissheiten keine Beweise der Wahrheit sind, dass die Welt, die
jedermann sieht, nicht die Welt ist, sondern eine Welt, die wir mit anderen hervorbringen. Sie verpflichtet uns dazu zu sehen, dass die Welt sich
nur ändern wird, wenn wir anders leben. Sie verpflichtet uns, da wir, wenn wir wissen, dass wir wissen, uns selbst und anderen gegenüber nicht
mehr so tun können, als wüssten wir nicht. Wenn wir wissen, dass unsere Welt notwendig eine Welt ist, die wir zusammen mit anderen hervorbringen,
dann können wir im Falle eines Konflikts mit einem anderen menschlichen Wesen, mit dem wir weiterhin koexistieren wollen, nicht auf dem beharren,
was für uns gewiss ist (auf einer absoluten Wahrheit), weil das die andere Person negieren würde. Wollen wir mit einer anderen Person koexistieren,
müssen wir sehen, dass ihre Gewissheit - so wenig wünschenswert sie uns auch erscheinen mag - genauso legitim und gültig ist wie unsere. Die
einzige Chance für die Koexistenz ist also die Suche nach einer umfassenderen Perspektive, einem Existenz-Bereich, in dem beide Parteien in der
Hervorbringung einer gemeinsamen Welt zusammenfinden.“ (s. 2)
Nimmt man nun das Anliegen ernst, den potentiell unterschiedlichen Sachlogiken der Teilnehmenden im situativen Arbeitsprozess einer Gruppe folgen
zu wollen, wird sich eine Sachdynamik entfalten, aus der dann auch hier und jetzt ernst(zunehmend)e Fragen und Konflikte hervorgehen können. Fragen
verlangen nach Beantwortung, nach Erklärung einer Situation, die hier und jetzt vielfältig erklärbar ist, in der dennoch nach einer Erklärung
verlangt werden könnte, auf die sich alle einigen können. Dann beobachtet man ein vermutlich allen Menschen vertrautes Verlangen, eine Sehnsucht
nach Einigkeit, nach Einverständnis über die Erklärung der Welt, die wohl noch eher gesucht wird, wenn sich mehrere Menschen im alltäglichen
Arbeits-Kontakt und fortlaufender Kommunikation aufeinander angewiesen erleben.
Es eröffnet sich mit der Konzentration auf Sachdynamik zwar die Möglichkeit, auch Sache(n) als komplex wahrzunehmen und sie unter
verschieden beobachtenden Blickwinkeln zu erklären. Das kann (s. o. „Sehnsucht nach Einigkeit“) jedoch nicht bedeuten, dass sich jedenfalls eine
vielfältige Sachdynamik entwickeln muss, um überhaupt von Sachdynamik sprechen zu können.
Es mag sogar sein, dass sich solche Komplexität gar nicht einstellen SOLL, dass differente Erklärungen der Situation unter allen Umständen
vermieden werden sollen. Das wäre z. B. bei einem Team denkbar, das sich zugunsten einer dringenden Problemlösung in dessen ErklärJung(en) von vorn
herein einig zeigt bzw. möglichst rasch auf eine gemeinsame Erklärung zustrebt.
Das kann auch bei Gruppen der Fall sein, die schon lange Jahre zusammen arbeiten und eventuell befürchten, durch Zunahme von Erklärungs-
Komplexität ihrer Situation in unüberwindliche Konflikte zu geraten und dadurch ihre Arbeitsfähigkeit zu gefährden.
Man wird also, je nach Voraussetzungen und Zielen der angestrebten Kommunikationen, jeweils andere Qualitäten von Sachdynamik beobachten
können. Deshalb wäre es m. E. verfehlt, nur dann von stattfindender wirkungsvoller Sachdynamik zu sprechen, wenn ausdrücklich unterschiedliche
Sachlogiken kommuniziert und Erkenntnisprozesse nur im strengsten Sinne von Maturana und Varela aufgefasst werden.
Beispielsweise kann eine Vermeidung unterschiedlicher Erklärungen auch in Gruppen vorkommen, die sich in einem Situationsdynamik-Training
zum ersten Mal zusammenfinden und möglichst rasch durch Behauptung gemeinsamer Vorannahmen die verunsichernden vielen Unbekannten reduzieren
wollen, mit der jede Gruppe in ihrer Anfangs-Situation konfrontiert wird.
Auch wenn TrainerInnen immer wieder beobachten, dass in sozialen Systemen tendenziell der sichere Weg der Kommunikation bevorzugt wird,
dass eine Gruppe eben noch einander völlig fremder Menschen in kürzester Zeit ihre Welt erschafft, die aus sachdynamisch aufgeschlossener
Beobachtersicht zunächst auffällig trivial wirken mag, besteht hier keine Veranlassung, deren Sachdynamik als trivial zu bewerten.
Vielmehr liegt in der professionellen Beweglichkeit und Konzentration auf sachdynamische Phänomene die Chance, das eigene Erkennen an sich
nicht zu trivialisieren, sondern den eigenen Beobachterstandpunkt und die eigenen beobachtenden (erkennenden) Fragen immer wieder neu so zu
gestalten, dass der Gruppe nicht-triviale Deutungen der Situation zur Verfügung gestellt werden.
Sachdynamische Kunst besteht dann darin, sachlogisch sinnstiftend zu kommunizieren und sich solcher Bewertungen zu enthalten, um in sach-
forschender Haltung neugierig zu bleiben, inwiefern sich die eigenen Beobachtungen sachlogisch sinnstiftend auf die Sachauffassungen der
Teilnehmenden auswirken. >
aus: "Situationsdynamik - Guck doch mal, wie Du guckst! Wer situativ beobachtet, weiß weniger und sieht
mehr...", S. 158 ff., Saarbrücken, 2011
Christiane Schmidt, Supervisorin (SD), Trainerin (SD)
1. Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela, „Der Baum der Erkenntnis“, München, 1984, S. 262
2. ebenda, S. 263 ff.
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