Der Blick auf das WIR - Eine Frage der Haltung?

Häufig scheint es gerade dann, wenn ein soziales System als solches in den eigenen Beobachtungsfokus rücken könnte, so zu sein, dass die Beteiligten sich bevorzugt anderen Themen zuwenden. Es liegt eben nicht im Bereich des Alltäglichen, dass sich Menschen überhaupt mit sich selbst, geschweige denn mit Ergründung ihrer selbst bzw. mit ihren Funktionen in ihren sozialen Umwelten beschäftigen. Also reagieren sie aus ihrer Sicht folgerichtig und treffen zunächst einmal eine systemerhaltende Entscheidung: Mein Gleichgewicht habe ich mir hart erarbeitet. Das ist mir lieber als... ja, was?

Hierzu fällt mir eine Geschichte ein, die ich als Mitglied einer Weiterbildungs-Gruppe selbst erlebt habe, aus der dann folgende Idee entsprang:

Wenn man sich das Modell der Situation einmal als Plattform vorstellt, die im Mittelpunkt auf einer Kirchturmspitze balanciert, würden sich die Menschen, die sich zur gleichen Zeit auf dieser Plattform befinden, vermutlich sehr aufmerksam um ein Gleichgewicht bemühen, das dafür sorgt, dass diese Plattform bleibt wo sie ist, damit sie nicht abstürzen.

In einer systemischen Weiterbildungsveranstaltung mit Fritz Simon habe ich dieses Experiment kennengelernt, obgleich die imaginierte Plattform in dieser Veranstaltung damals der Fußboden eines Zimmers war und auch keine Situations-Plattform mit ihren vier Feldern. Zwölf Teilnehmende sollten sich auf der bezeichneten Fläche so positionieren und bewegen, dass diese im Gleichgewicht blieb. Einer der Teilnehmenden war jedoch vorher instruiert worden, ohne dass die anderen davon wussten - und sprang plötzlich unerwartet in eine andere Ecke der Fläche, worauf alle anderen instinktiv extrem schnelle Gegenbewegungen vollzogen, um das imaginierte Gleichgewicht wieder herzustellen.

Als Teilnehmerin an diesem Experiment schoss mir in diesem Moment einiges Adrenalin durch die Adern - und als Beobachterin sausten mir einige rasend schnelle Assoziationen durchs Hirn: Wow, so schnell können sich Leute bewegen! Aha, so wirklich wirkt sich also eine imaginierte Situation aus! Wie viel geschieht in Gruppen eigentlich völlig instinktiv? Besser kann man es nicht klarmachen, wie sehr Menschen voneinander abhängig sind! Und als ich wieder etwas vernünftiger denken konnte, fragte ich mich auch: Wofür könnte denn ein solches Experiment außerdem noch nützlich sein?

Und dann kam mir bezüglich Gruppenverhalten diese Imagination des Situationsmodells auf der Kirchturmspitze in den Sinn. Daraus folgten dann einige Fragen bzgl. meiner Positionierung, wenn ich als Trainerin mit einer Gruppe im WIR-Aspekt der Situation arbeite: Das Modell der Situation auch bildlich als bewegliche Beobachtungs-Plattform zu nutzen, auf der alle Beteiligten gleichzeitig agieren und reagieren, hat sich seither manches Mal für mich bewährt.

Einzelne veranlassen mit jeder kleinsten Positionsveränderung auf dieser Plattform auch andere wiederum dazu, ihre Position zu verändern. So tragen im Grunde alle mit jedem Wechsel ihres Fokus dazu bei, dass ein womöglich kollektiv als solches erlebtes Gleichgewicht von allen erzeugt und aufrecht erhalten wird - und das wirkt sich auch auf mich als Trainerin aus, die sich seither öfter fragt: Wie viel solcher Gewichtsverlagerung (Gleichgewicht verändernden Fokus) verträgt eine Gruppe, wenn es plötzlich um dieses WIR gehen soll?

Ich bin geneigt, in diesem Fokus auch an politische Verantwortung, an gesellschaftliche Bedeutung (oder Gewicht) eines aufgeklärten individuellen Da-Seins zu denken. Dann neige ich dazu, von hierzu erforderlicher Aufklärung zu sprechen, die uns heutigen ZeitgenossInnen in prüfender Beobachtung zeitgeschichtlicher, politischer und sozialer Prozesse wieder auf weite Strecken zu fehlen scheint. Gebe ich dann zu viel Gewicht auf diese Seite? Und prompt flüchten alle auf die andere, die sich individuell behauptende Seite?

Würde solche immer auch gesellschaftskritische Aufklärungs-Lust gepflegt, geriete der Motor existenziell gespürten Beteiligt-Seins womöglich nicht so leicht ins Stottern. Wenn Sinn-Fragen wieder auftauchen wie „Lohnt sich denn hier mein Engagement?“ Oder „Was soll denn das alles? Es führt ja doch zu nichts!“ könnte man Fragen dieser Art doch auch als hilfreiches Symptom oder als Anregung zu aufklärenden Beobachtungen verstehen - und müsste sie nicht als Ausdruck von Resignation und Rückzug interpretieren. H. Euschen spricht hier von „situativer Aufklärung“ und zitiert dazu Ernst Bloch:

„Das ist zugleich die einzige Art Erziehung, die utopisch im guten Sinne ist, soll heißen, die das Alte vom Neuen her begreift und erlernt, nicht umgekehrt, und die die kanonische (s. 1) Art des Wollens und Wissens nicht ins Abgelebte oder bewusst Gehemmte zurückbringt. Aufrechter Gang kommt hier auf, Selber-Sein im Gemeinsam-Sein, Schüler wie Lehrer leben vorn, an ständig vorrückender Grenze. Sie leben dort, wo das Ziel selber jung ist, zu dem hin der Lernende hell wird und in Form kommt." (s. 2)

Zwei weitere zentrale Aussagen, die ich hierzu bei H. Euschen gefunden habe, möchte ich ergänzend noch zitieren:

Erstens: „Situative Aufklärung führt zur Kompetenz, diejenigen Formen dumpfen Normdruckes zu begreifen und zu klären, die in die gegenwärtige Situation und das eigene Erleben hineinreichen oder gesellschaftlich-strukturell bekannt sind. Es geht um diejenige persönliche und gruppenspezifische Stärke, unterscheiden zu können, welche Normen wirklich vorhanden sind und welche Arten von diffusem Gewissenserleben nur eingebildete Erlebnisse von Druck erzeugen. Weiterhin geht es darum, mit den wirklich vorhandenen Normen so umgehen zu lernen, dass entschieden werden kann, welchen ihrer Anforderungen genüge getan wird und welchen Anforderungen Widerstand entgegengebracht werden soll.“ (s. 3)

Zweitens: „Situative Aufklärung führt zu der Kompetenz, statt der gelebten unechten Zukunft Perspektiven echter Zukunft entwerfen und deren Prozesse initiieren zu können. Die aufgeklärte Situation wird als nicht mehr rhythmisch wiederholte und routinierte, sondern als einmalige erlebt. Die Einmaligkeit wird emotional und verstandesmäßig präsent. Aus dieser Qualität der Gegenwart kann die gleiche Qualität der Vergangenheit zumindest ansatzweise, diejenige der Zukunft weitgehend analogisiert werden. Aus dem Erleben teilweise gestärkter Verfügbarkeit der gegenwärtigen Situation kann das gleiche für die Gestaltbarkeit der Zukunft und damit für eine stärkere Handlungs-Mächtigkeit in dieser Richtung erwartet werden.“ (s. 4)

Nun reibt man sich vermutlich verwundert die Augen und sieht sich doch wieder zurückgeworfen auf das individuelle leibliche Erleben der Einmaligkeit (aufgeklärter) Situation, wenn es um das Erkennen sozialer Prozesse geht. Dann beobachtet man die kleinsten Einheiten oder Mikrostrukturen oder nach Schattenhofer die Psycho-Schnittstellen sozialer Systeme.

Im Sinne situativer Aufklärung sieht man sich nun eingeladen zu alternativen zukunftsweisenden Erfindungen, die wieder von individuell subjektiver Beobachtung und Bewertung neu ausgehen - jetzt im Erleben sozialer Prozesse und Konstruktionen (Mezzo-Struktur) - vorausgesetzt, es wird gewagt.

Ernst Bloch äußert sich zu dieser Möglichkeit des Immer-Wieder-Neu-Ausgehens in seinem Werk „Prinzip Hoffnung“ unter den Überschriften „Der Mensch ist nicht dicht“ und „Vieles in der Welt ist noch ungeschlossen“.

Hierzu auszugsweise einige seiner Schilderungen:

„Sich ins Bessere denken, das geht zunächst nur innen vor sich. Es zeigt an, wie viel Jugend im Menschen lebt, wie viel in ihm steckt, das wartet. Dies Warten will nicht schlafen gehen, auch wenn es noch so oft begraben wurde… Auch die enttäuschte Hoffnung irrt quälend umher, ein Gespenst, das den Rückweg zum Friedhof verloren hat, und hängt widerlegten Bildern nach. Sie vergeht nicht an sich selbst, sondern nur an einer neuen Gestalt ihrer selbst… Freilich ginge auch inwendig nichts um, wäre das Auswendige völlig dicht. Draußen aber ist das Leben so wenig fertig wie im Ich, das an diesem Draußen arbeitet. Kein Ding ließe sich wunschgemäß umarbeiten, wenn die Welt geschlossen, voll fixer, gar vollendeter Tatsachen wäre. Statt ihrer gibt es lediglich Prozesse, das heißt, dynamische Beziehungen, in denen das Gewordene nicht völlig gesiegt hat. Das Wirkliche ist Prozess, dieser ist die weitverzweigte Vermittlung zwischen Gegenwart, unerledigter Vergangenheit und vor allem: möglicher Zukunft. Ja, alles Wirkliche geht an seiner prozessualen Front über ins Mögliche, und möglich ist alles erst Partial-Bedingte, als das noch nicht vollzählig oder abgeschlossen Determinierte. …Bewegtes, sich veränderndes, veränderbares Sein, wie es als dialektisch-materielles sich darstellt, hat dieses unabgeschlosse-ne Werdenkönnen, Noch-Nicht-Abgeschlossensein in seinem Grund wie an seinem Horizont.“ (s. 5)

Mit dem Draußen, der Welt, ist nun auch der Bereich der Makro-Strukturen bzw. Schattenhofers Sozio-Schnittstelle sozialer Systeme beschrieben.

Ja, es sind im WIR-Aspekt wiederum Menschen als Gestaltende ihrer Lebenswelten und ihre Miteinander-Geschichten im Spiel, ohne die es gar keine sozialen Systeme und die Vielfalt ihrer Spielarten gäbe, die immer wieder gestaltenden Einfluss auf ihre Welten nehmen. Es sind einzelne Menschen, die als Mit-Gestaltende ihrer sozialen Systeme wiederum beharrenden oder verändernden Einfluss auf ihre Welten nehmen.

Also entscheide ich mich doch immer wieder für einen beherzten Sprung in diesen gewichtigen Fokus des WIR mit seinen vielleicht noch halb schlummernden Fragen. Wie wollen wir diese soziale Hier-und-Jetzt-Konstruktion gestalten? Kann man, darf man denn so fragen? Geben wir uns doch hier und jetzt einmal die Erlaubnis, im Sinne von Ernst Bloch nicht ganz dicht zu sein… Wie könnte es dann aussehen, ein WIR, das uns und unseren Bedürfnissen und Zielen entspricht...?

Solche Fragen können ganz beträchtlich die Voraussetzungen verrücken, unter denen die in dieses Hier-und-Jetzt mitgebrachten Gleichgewichts-Konstruktionen dieser mir noch ganz unbekannten Protagonisten bisher ganz zufriedenstellend funktionierten...

Aber ich werde ja sehen, wie sie sich dann bewegen, um ein neues Gleichgewicht hier und jetzt herzustellen. Ich werde sie sehen, sie werden mich sehen, wir werden alle sehen, in welche Richtungen unsere Ausgleichsbewegungen dann gehen, wer darauf wiederum wohin und wie reagiert..., welcher neue Tanz sich dann hier zu tanzen beginnt... Dann hat die nächste situativ aufklärende Kommunikation längst begonnen.
 
aus: "Situationsdynamik - Guck doch mal, wie Du guckst! Wer situativ beobachtet, weiß weniger und sieht mehr...", S. 96 ff., Saarbrücken, 2011  

Christiane Schmidt, Supervisorin (SD), Trainerin (SD)



1. Lat. Canon „Norm, Regel“
2.Ernst Bloch „Prinzip Hoffnung“, Bd. 3, S. 1092, in H. Euschen, „Alltagsbezogene Agogik, Grundlagen einer situativen Didaktik“, Ludwigshafen, 1983, S. 119
3. H. Euschen, „Alltagsbezogene Agogik, Grundlagen einer situativen Didaktik“, Ludwigshafen, 1983, S. 120 f.
4. ebenda, S. 121 f.
5. Ernst Bloch, „Das Prinzip Hoffnung“, 5. Auflage, Band 1, Frankfurt/Main, 1990, S. 224 ff.