Meditieren als Beitrag zum Frieden


Sind die Waffen stark, so siegen sie nicht.
Lao Tse (s. 1)
Große Politik ist heute letztlich Meditation über die Bombe, und tiefe Meditation sucht in uns den bombenbauenden Impuls auf.
Peter Sloterdijk (s. 2)
Der Weltfriede verlangt von uns eine außerordentliche moralische Anstrengung.
Carl Friedrich von Weizäcker (s. 3)
Frieden ... Du leiseste aller Geburten.
Nelly Sachs (s. 4)
Wohl kein anderes Wort hat unsere Vorstellungskraft so sehr in die Nähe des Friedens gerückt wie das der Meditation: wer meditiert, verhält sich still, in sich gekehrt, sanft, unaggressiv. Meditieren als Vorgang erscheint wie ein Weg aus der Hast in die Ruhe, aus dem Stress dorthin, wo alles besänftigt werden kann. Jemand, der meditiert, so die Schlußfolgerung, müßte also auch wie kein anderer um die Möglichkeiten und Bedingungen des Friedens wissen und uns sagen können, inwiefern Friede mehr ist als die Abwesenheit von Gewalt. Vielleicht könnte er uns auch einen Weg aufzeigen, wie wir alle miteinander dem Frieden näher kommen können.

Was wissen Meditationsjünger denn schon von den harten Fakten des Lebens? Sind sie es nicht gerade, die dazu auf Abstand gegangen sind? Meditative Zusammenkünfte stehen leicht im Hauch des Naiven, Unernsten. Wozu sollen uns denn das Schwelgen in Harmoniegefühlen oder selbst große innere Erfahrungen weiterhelfen? Die Realität der Außenwelt bleibt davon doch letztlich unberührt. Ist nicht Meditation doch eine gefährliche Droge, die uns zutiefst von dieser Welt mit ihren Nöten entfremdet?

Als jemand, der durch die Schule der ignatianischen Exerzitien gegangen ist und in der Schule des Zen an sich weiterarbeitete, d.h. als einer, der jeweils über ein Jahrzehnt eine westliche und eine östliche Meditationsmethode geübt hat, und der eine ganze Reihe von Menschen begleiten konnte, die auch einen meditativen Weg gingen, möchte ich einige Überlegungen über die Beziehung zwischen Meditation und Frieden vorlegen. Vielleicht gelingt es diesen Gedanken, über den garstigen Graben, der sich zwischen Meditation und Politik aufgetan hat, hinüberzublicken - ihn durch entsprechende praktische Schritte zu überbrücken wäre freilich notwendiger.

 

Falsche Zungenschläge

Die beiden Begriffe "Meditation" und "Frieden", die die Themenstellung vereinigt, haben leider eine belastete Geschichte und werden in Zusammenhängen gebraucht, die ihrer Kenntlichkeit Abbruch tun. Sicherlich ist Frieden dabei das stärker missbrauchte Wort. Wir Deutsche machen es uns mit diesem Wort besonders schwer. Es wird vor allem in Predigten oder Wahlreden benutzt. Außerhalb des kirchlichen oder politischen Rahmens macht es jedoch einen etwas verlorenen Eindruck. Das ist in anderen Sprachen und Völkern, die den Frieden (wie z.B. manche Indianerstämme oder die Juden) in ihre Grußformel aufgenommen haben, anders. Die deutsche Alltagssprache spart Frieden aus dem tagtäglichen Verwendungszusammenhang aus und tut so, als handele es sich um etwas Besonderes, Außerordentliches. Friede ist zu einem großen Wort aufgebläht worden, zu gewichtig, als dass es einem leicht über die Lippen käme.

Im politischen Bereich ist das Wort mehrfach korrumpiert worden. Es gibt "Friedensarmeen", "Friedenskämpfer", auch den "Friedensdienst mit der Waffe". Natürlich dienen solche Bezeichnungen mehr der Verschleierung von Tatsachen und der entsprechenden Propaganda. Für alles Mögliche wird der Frieden in Anspruch genommen - warum nicht auch für den Krieg? Hermann van Veen eröffnet sein Büchlein voller "Notizen eines Clowns" mit der schönen Geschichte:
Ein Jude kam zu seinem Rabbi und fragte: "Rabbi, Sie sind ein sehr weiser Mann, sagen Sie mir, wird es einen Krieg geben?" "Es wird keinen Krieg geben", antwortete der Rabbi, "aber es wird einen solchen Kampf um den Frieden geben, dass kein Stein auf dem anderen bleibt."(s. 5)
Soll man auf das Wort verzichten, um diesen Streit zu vermeiden? - Auch wenn die Rede vom Frieden leicht Missverständnissen ausgesetzt ist, die Sache, um die es dabei geht, benötigen wir allemal. Wir könnten noch nicht der geringsten sinnvollen Tätigkeit wie Lesen, Spazieren gehen oder Musik hören nachgehen, ohne einen gewissen Frieden in unserer Umgebung und Frieden in unserem Herzen. Deswegen möchte ich - vielleicht etwas naiv - der Grundkraft dieses Wortes trauen. Mir ist kein besseres Wort bekannt. Vor allen Entstellungen, die sich im Sprachgebrauch widerspiegeln, ist Friede die vielleicht nostalgisch klingende, aber durchaus noch verständliche Vokabel für einen ausgeglichenen Zustand, in der alle Glieder der Gesellschaft ihren Platz einnehmen dürfen und zu ihrem Recht kommen.

Die germanische und indogermanische Wurzel dieses Wortes ist übrigens die gleiche wie des Wortes "frei". Sie lautet "fri" bzw. "pri", was man mit "lieben, erfreuen, hegen" übersetzen könnte. Der Weg zum Frieden, so die Sprachgeschichte, führt also übers Lieben, Freude haben aneinander und das Übernehmen von Verantwortung füreinander. Wie so oft macht der Blick in die Vergangenheit eines Wortes dieses farbiger und konturenreicher. Das althochdeutsche Substantiv "fridu" (germanisch "fripu") benennt ursprünglich einen Zustand der Freundschaft und Schonung. Die Sprachgeschichte erinnert uns also an die Nähe des Friedens zur Freiheit, Freundschaft und Vergebung.

Nicht nur das Wort Friede benötigt eine Reinigung von falschen Zungenschlägen. Auch das Wort Meditation ist, wenn man auf seinen Gebrauch schaut, nicht gerade in einem idealen Zustand. Der Büchermarkt spiegelt den modischen Trend. Lyrische Texte oder besinnliche Gedanken, ja sogar simple Bildbetrachtungen werden als Meditationsbücher angepriesen. Von der Nennung dieses Worts erhofft man sich eine Steigerung des Verkaufs. Aber nachdenkliches Lesen oder ruhiges Anschauen schon Meditation zu nennen, bewirkt einen inflationären Wortgebrauch. Weil alles Mögliche so benannt wird, greift der Ausdruck an Stellen, wo er wirklich benötigt würde, leider auch nicht mehr. Viele ernsthaft Meditierende verzichten daher auf diesen Begriff. Sie haben dazu gute Gründe.

Will man dagegen auf dieses Wort nicht verzichten, dann sollte man in einem strengeren Sinn unter Meditation alle Übungen entschiedener und fortschreitender Sammlung verstehen, in denen Menschen bei sich selber einkehren und bereit sind, sich von innen her verändern zu lassen. So unterschiedlich die Meditationsweisen auch sein mögen und so verschieden ihre Terminologie, ihre Methodik, ihr Menschen-, Welt-und Gottesverständnis, gar die Weise der Anleitung oder Begleitung, - die Zentrierung auf einem menschlichen Innenpol sowie die Erneuerung aus ihm ist ihnen allen gemeinsam.(s. 6)

Unser Fremdwort Meditation kommt vom lateinischen meditari, griechischen medomai. Beide Ausdrücke meinen ein nachsinnendes, betrachtendes Verweilen bei einer Sache und wurden ursprünglich in einem weiten Sinn gebraucht. In der lateinischen Fassung steckt der Ausdruck medium = Mitte und zugleich eine grammatikalische Passivform, das sog. Deponens, das man etwa so übersetzen könnte: zur Mitte gegangen werden. In einem engeren moderneren Sinn meint Meditation das regelmäßige und unter Anleitung systematische Üben einer Bewusstseinsform, die sich vom durchschnittlichen Bewusstseinszustand durch erhöhte Wachheit, eine qualitativ neue Achtsamkeit, das Zurücktreten der Außenwelterfahrungen bis hin zu mystischen Erlebnissen erstreckt.

Wenn Meditation heute häufiger im Kontext der Therapie, z.B. zum Beheben psychosomatischer Störungen empfohlen und geübt wird, so ist dies eine relativ junge, profane Zielsetzung. Die meisten der hier angebotenen Methoden bleiben übrigens im Vorfeld der eigentlichen Meditation. Ursprünglich ist Meditation eine spirituelle Übung, die die Erfahrung der Einheit zwischen Ich und Sein, Bewusstsein und letzter Wirklichkeit, Person und Gott anzielt.

 

Balance zwischen innen und außen

Ein meditatives Bemühen lässt also der menschlichen Innenwelt Gerechtigkeit widerfahren. Carl Happich, einer der Wegbereiter der Meditationsbewegung im deutschen protestantischen Raum, nannte die Meditation deswegen einfach Innerung (s. 7). Karlfried Graf Dürckheim spricht von der Entwicklung eines "inständlichen Bewusstseins" im Gegensatz und als Korrektiv zum gegenständlichen Bewusstsein (s. 8). Die Meditationswelle vor einigen Jahren wird sehr verständlich, wenn man sie vor allem als einen Protest auf die fast ausschließliche Außensteuerung in unserer Kultur versteht.

Innen und Außen gehört als Grundspannung in unser menschliches Leben, ebenso wie die Grundspannungen zwischen einzelnem und der Gemeinschaft oder zwischen Natur und Kultur. Immer wenn ein Pol solcher Spannungspaare zu wenig Beachtung erhält, fällt der Mensch aus seiner Balance, verlässt den Zustand des Gleichgewichts und der ausgeglichenen Ordnung. Erst die angemessene Anerkennung des missachteten Pols kann den Ausgleich wiederherstellen. In unserer von Verstand und Willen beherrschten, außengeleiteten Kultur ist Meditieren also bereits in einem sehr einfachen und schlichten Sinn friedensfördernd: Wer meditiert, achtet auf sein seelisches Erleben und in der Anerkennung der Regungen, Gestimmtheiten und Wachstumsprozesse seines inneren Lebens dient er dem Ausgleich zwischen Außen und Innen, zwischen Machen und Geschehenlassen, zwischen Verstand und Intuition. Ob er es weiß oder nicht, er arbeitet an der Überwindung von etwas, das uns allen aus unterschiedlichen Gründen leider in die Wiege gelegt wurde: seelische Friedlosigkeit.

Niemand lebt in dieser Welt, der nicht auf die eine oder andere Weise friedlos wäre. Wir alle haben - mythologisch gesprochen - den Sündenfall in uns, erfahren uns, wenn nicht gewalttätig, so doch unbefriedigt, enttäuscht, ängstlich oder sorgenvoll. Unsere Kultur bringt uns bei, die Überwindung dieser unangenehmen Empfindungen im Außen zu suchen. Wir brauchen nur unsere Lebensverhältnisse zu verbessern, uns komfortabler mit technischen Erleichterungen auszustatten, um glücklicher zu werden – so eine allgemeine, nicht weiter infrage gestellte Grundüberzeugung. Aber die Menschen in den reichen Ländern haben leider die Probe aufs Exempel noch nicht bestanden: Sie sind durch ihren Wohlstand weder glücklicher noch friedlicher geworden. Im Gegenteil: Ausgeglichene, mit sich und ihrem Leben zufriedene Menschen leben häufig in einem bescheidenen materiellen Rahmen, wenn sie nicht sogar wirklich arm sind.

Die Ordnung des äußeren Lebens ist also nur die eine Hälfte der Aufgabenstellung. Eine bewusste Pflege des inneren Lebens sollte sie ergänzen. Wir alle tragen ungehobene Schätze inneren Reichtums in uns, die nur darauf warten, entdeckt zu werden. Allerdings tragen wir auch die Spuren so mancher Verletzungen, die erst ins Bewusstsein gehoben und geheilt sein wollen, bevor wir Zutritt zu den Reichtümern bekommen. Die damit verbundenen Schmerzen machen den Weg der Meditation nicht gerade populär. Jemand, der meditiert, besinnt sich auf sich selber. Er erfreut sein inneres Leben mit dem Geschenk seiner Aufmerksamkeit. Nachdem er ernsthaft und stetig z.B. auf dem Weg der inhaltlichen Meditation zu üben begonnen hat, wird er bald vielleicht mit Verwunderung bemerken, dass er viel weniger Stoff zur Beschäftigung benötigt, als er dachte.
Denn "nicht das Vielwissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Verspüren und Verkosten der Dinge von innen her." (s. 9)

In der Vertiefung seiner zunehmenden Übungspraxis wird er lernen, sich mit mehr und mehr, was da in ihm und durch ihn hindurch auftaucht, anzufreunden. Manches Mal mag es ihm ziemlich fremd, ärgerlich, sogar peinlich oder verabscheuenswürdig erscheinen. Aber was es auch sei: In der Kraft seiner Aufmerksamkeit, seines Vertrauens und Stillhaltens wird es sich verwandeln. Wie es in einem alten Kommentar zum chinesischen Weisheitsbuch Yi jing (I Ging) heißt:
"Unter allem, was die Dinge endet und die Dinge anfängt, gibt es nichts Herrlicheres als das Stillehalten." (s. 10)

Aber schränken wir uns nicht zu schnell auf das ein, was man als den "Seelenfrieden" des einzelnen missverstehen könnte. Friede ist vor allem ein Thema im Verhältnis der Staaten zueinander, in den Beziehungen zwischen Völkern und Nationen. Der Gegensatz zu diesem Frieden und seine größte Bedrohung ist der Krieg. Wer dem Frieden dienen will, muss etwas vom Krieg verstanden haben.

 

Kriegsvorbereitung als Normalfall

Warum ziehen die menschenfreundlichsten Familienväter zu bestimmten Zeiten bis an die Zähne bewaffnet gegen fremde Menschen und Nationen, mit denen sie bisher kaum zu tun hatten? Warum setzen sie alles daran, die anderen auf möglichst raffinierte Weise umzubringen, um nach dem Verebben dieser kollektiven Hysterie und unter der Voraussetzung, dass sie bei diesem Schlachten übrig geblieben sind, so, als wäre nichts geschehen, sich wie vorher um ihr privates Glück zu kümmern?

Wie ist es möglich, dass ein unbekannter, verkrachter Kunstmaler innerhalb von zwanzig Jahren zum Herrn Europas aufsteigen kann, von keinem der vielen vernünftigen Autoritäten dieser Zeit in die Schranken gewiesen? Mit welcher Macht konnte er Bevölkerungsgruppen, ja ganze Völker so aufeinander hetzen, dass sie sich gegenseitig fast ausrotteten? Wie können sich Millionen freier Menschen von einem Schauspieler als amerikanischen Präsidenten so beeinflussen lassen, dass sie sich gegen ihren gesunden Menschenverstand von Zwergstaaten, deren Bedeutungslosigkeit sie von einer Landkarte ablesen könnten, bedroht fühlen? Oder dass sie militärische Projekte unterstützen, die unvorstellbare Summen verschlingen, während die Armut im eigenen Land ein riesiges Problem ist?

Auf solche Fragen gibt es bis heute keine befriedigende und ausreichende Antwort. Alles, was Politologen, Historiker, Psychologen, Verhaltensforscher usw. erklären können, sind Teilaspekte, die die Wucht und Destruktivität dieses Geschehens insgesamt kaum befriedigend erklären können. Noch nie zuvor wussten wir so viele Details, die in diesem Geschehen eine Rolle spielen: wir kennen die verschiedenen Militärstrategien, ausgeklügelte Waffentechniken, die Gesetze der politischen Propaganda, die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte von Feindbildern, die Grenzen und Chancen des internationalen Rechts, wir wissen viel über die Verquickung von Wirtschaft, Politik und Kriegsplanung usw. usf. Gleichzeitig fühlten wir uns dennoch noch nie so hilflos und ausgeliefert wie heute.

Denn über den Menschen selber, von dem schließlich die Entscheidung über Krieg und Frieden abhängt, wissen wir erstaunlich wenig. Jeder kann es von sich selber sagen: Ich bin mir selber ein unbekanntes Wesen. Was die Fragen von Krieg und Frieden angehen, so lasse ich mich mitnehmen, ich bin beteiligt, aber wie am Rande, ich entscheide in kleinen Dingen und werde noch mehr entschieden in den großen, ja, ich kann kaum anders, bis plötzlich die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten ist und ich mehr übel als wohl mitmachen muss.

Carl Gustav Jung hat wiederholt auf diesen Umstand hingewiesen: Man schaue auf die teuflischen Mittel der Zerstörung! Sie sind erfunden von vollständig harmlosen Gentlemen, von vernünftigen, angesehenen Bürgern, die all das sind, was wir wünschen. Und wenn die ganze Sache in die Luft fliegt und eine unbeschreibliche Hölle der Zerstörung aufreißt, so scheint niemand dafür verantwortlich gewesen zu sein. Es geschieht einfach, und doch ist alles von Menschen gemacht. (s. 11)

Wenn etwas einfach so geschieht - die trügerische Redensart dafür lautet: "ein Krieg bricht aus" - und doch alles von Menschen gemacht ist, dann steckt der Mensch in einem entsetzlichen Dilemma: nach außen hin tritt er harmlos in Erscheinung, pflegt er gute Umgangsformen, tatsächlich aber dient er der Zerstörung. Psychologisch gesagt: bewusst ist er kultiviert, unbewusst destruktiv. Bestenfalls tritt das ein, was ein früher christlicher Missionar so ausdrückte: Ich begreife mein Handeln nicht: ... Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will.(s. 12)

Wer in dieser Krise des Wollens nicht auf die Sonnenseite des Dilemmas wechseln und weiter so tun will, als wäre alles in Ordnung, der kommt nicht umhin, anzuerkennen, dass im Menschen eine tiefe Bereitschaft zu Destruktion und Gewalt schlummert, die nur entsprechende äußere Bedingungen finden muß, um nach außen zu treten. Diese Bereitschaft ist in der Regel nicht bekannt, ihre Energie wird unterschätzt, aber das untergründig Vorhandene wuchert in der Verborgenheit nur umso stärker. In einem Brief an Albert Einstein zum Thema Krieg sprach Sigmund Freud 1932 von einem Aggressions- und Destruktionstrieb, der im Menschen wirksam sei als Gegenspieler zu den lebenserhaltenden und lebensfördernden Trieben: Wenn also die Menschen zum Krieg aufgefordert werden, so mögen eine ganze Anzahl von Motiven in ihnen zustimmend antworten, edle und gemeine, solche, von denen man laut spricht, und andere, die man beschweigt. ... Die Lust an der Aggression und Destruktion ist gewiss darunter; ungezählte Grausamkeiten der Geschichte und des Alltags bekräftigen ihre Existenz und Stärke.(s. 13)

Leider gelang es Sigmund Freud nicht, die Ursachen der Lust an der Aggression und Destruktion zu klären. Er mythisierte diese Tendenz in seinem Spätwerk als Todestrieb und setzte sie den lebensfördernden und -erhaltenden Trieben entgegen. Wenige Jahre, nachdem er diesen Brief geschrieben hatte, sollte sich auf grausame Weise zeigen, wie mächtig dieser Trieb werden konnte: Er schlug ganz Europa in seinen Vernichtungsbann. Friedensforschung wie Psychologie weisen in die gleiche Richtung: wir wissen zu wenig über die Grunddynamik unserer Handlungen und Einstellungen. Das wissenschaftlich Ungewusste ist psychologisch das Unbewusste. Im Ungewussten wie im Unbewussten sind aber in der Tat die treibenden Faktoren für das Verhängnis des Krieges verborgen. Mit anderen Worten: unser Bewusstsein unterschlägt gerade das Entscheidende!

 

Vom Ich zum Selbst

Wenn wir an dieser Stelle das Augenmerk wieder auf die Meditation lenken, dann können wir bemerken, dass die Meditation die normale Reihenfolge der Wichtigkeit umkehrt: Nicht das, was jemand weiß oder kann, ist beim Meditieren bedeutsam, sondern gerade seine Kehrseite. Die alltägliche Lebenseinstellung wird auf den Kopf gestellt. Dem Unbewussten wird so viel Raum wie möglich, dem Bewussten nur so viel wie eben notwendig eingeräumt.

Wer meditiert, "rechnet" also geradezu mit dem, was in der Alltagsorientierung links liegen bleibt, was sogar übergangen werden muss, soll das äußere Leben so wie bisher weitergehen. Er stellt sich auf das Unbewusste ein, er achtet es und gibt ihm die Chance, sich zu äußern. In der schönen und exakten Definition Carl Friedrich von Weizsäckers:
Meditation ... ist die Bereitschaft, den Willen still werden zu lassen und das Licht zu sehen, das sich erst bei still gewordenem Willen zeigt. Sie ist eine Schule der Wahrnehmung, des Kommenlassens der Wirklichkeit. Deshalb hat das Verlangen nach ihr Recht. (s. 14)
Politik wird gemacht, indem man von Verstand und Wille möglichst ausgiebig Gebrauch macht. Meditieren dagegen lässt die Stimmen von Verstand und Willen zunehmend zur Ruhe kommen und schließlich schweigen. Es entfaltet sich nicht im Kopf, sondern im Raum des Gemüts. Es vertieft sich durch die Empfindung, das Ernstnehmen der Gefühle und der intuitiven Erkenntnis. Ignatius von Loyola hat daraus sogar eine Methode gemacht: Er lässt den Stoff der Wiederholungsübungen von den Emotionen der Übenden auswählen. Dorthin, wo der Übende sich stimmungsmäßig mehr angesprochen oder bewegt fühlte, soll er bei der nächsten Übung zurückgehen, um an dieser Stelle in die Meditation von neuem einzutreten. (s. 15)

Von tatkräftigen, unternehmungslustigen Charakteren wird Meditation oft als etwas Passives eingeschätzt. In der Tat enthält es mehr Loslassen statt Verfolgen, Kommenlassen statt Machen, Geschehenlassen statt aktiv Gestalten. Genau besehen ist ein meditativer Vorgang jedoch jenseits der Polarität von aktiv und passiv. Wer das beschreiben will, was im meditativen Bewusstsein erfahren wird, muß bald Paradoxa zu Hilfe nehmen. Laozi im China des 4. Jahrhunderts v. Chr.:
Man schaut nach ihm und sieht es nicht: Sein Name ist Keim.
Man horcht nach ihm und hört es nicht: Sein Name ist Fein.
Man fasst nach ihm und fühlt es nicht: Sein Name ist Klein. ...
Sein Oberes ist nicht licht, sein Unteres ist nicht dunkel.
Ununterbrochen quellend, kann man es nicht nennen. (s. 16)
Augustinus im Nordafrika des 4./5. Jahrhunderts:
Was aber liebe ich, da ich dich (Gott) liebe? Nicht die Schönheit eines Körpers noch den Rhythmus der bewegten Zeit; nicht den Glanz des Lichtes, der da so lieb den Augen; nicht die süßen Melodien in der Welt des Tönens aller Art; nicht der Blumen, Salben, Spezereien Wohlgeruch; nicht Manna und nicht Honig; nicht Leibesglieder, die köstlich sind der fleischlichen Umarmung: nichts von alledem liebe ich, wenn ich liebe meinen Gott. Und dennoch liebe ich ein Licht und einen Klang und einen Duft und eine Speise und eine Umarmung, wenn ich liebe meinen Gott: Licht und Klang und Duft und Speise und Umarmung meinem inneren Menschen. Dort erstrahlt meiner Seele, was kein Raum erfasst; dort erklingt, was keine Zeit entführt; dort duftet, was kein Wind verweht; dort mundet, was keine Sattheit vergällt; dort schmiegt sich an, was kein Überdruss auseinander löst. Das ist es, was ich liebe, wenn ich liebe meinen Gott. Was aber ist es? (s. 17)
Zen Meister Dogen im Japan des 13. Jahrhunderts:
Den Buddha-Weg lernen heißt das eigene Selbst lernen.
Das eigene Selbst lernen heißt das eigene Selbst vergessen.
Das eigene Selbst vergessen heißt von den zehntausend Dingen bestärkt werden.
Von den zehntausend Dingen bestärkt werden
heißt Leib und Geist des eigenen Selbst sowie Leib und Geist des anderen ausfallen machen.
Die Spuren der Erleuchtung verschwinden; die spurlose Erleuchtung dehnt sich aus - endlos. (s.18)
Paradoxe Formulierungen sind unumgänglich, um einigermaßen zu beschreiben, was in der Meditation vor sich geht. Aber sie sind eine Demütigung für den Verstand. Offensichtlich gibt es etwas, das tiefer als unser Denken reicht, überall anwesend und dennoch nicht zu fassen. Vielleicht ist es besser, von ihm zu schweigen. Aber auch das Schweigen bringt es nicht notwendigerweise herbei. Wie es in der Zen-Tradition heißt: Es kommt
"ohne Worte, ohne Schweigen."
Wie auch immer benannt wird, was in der Meditation zutiefst erfahren werden kann:
das Licht, das sich erst bei still gewordenem Willen zeigt,
das All-Eine, das alles in sich birgt und alles aus sich entlässt,
ein Sinn jenseits von Sinn und Unsinn oder
Friede und Erfüllung, die zu beschreiben die Sprache immer versagt.
Derjenige, der etwas davon geschmeckt hat, erlebt gegenüber früher eine Revolution seiner Lebenseinstellung. Zuerst als Ahnung, dann als Erlebnis zeigt sich, dass sein Ich nicht alleiniger Mittelpunkt seiner Welt ist. Es rückt aus dem Zentrum, relativiert sich und gibt den Blick frei auf etwas unendlich Größeres, in dessen Dienst dieses Ich nur steht. Man kann diese Änderung der Grundeinstellung mit der kopernikanischen Wende vergleichen. So wie früher die Menschen annahmen, die Erde sei der Mittelpunkt der Welt und die Sonne drehe sich um die Erde, so nimmt der in inneren Dingen unerfahrene Mensch an, die Welt drehe sich um sein Ich. In dem Maß, indem er sich vertieft, erlebt er, dass es umgekehrt ist: Sein Ich dreht sich wie ein Trabant um ein Zentrum, aus dem alle Dinge hervorgehen und in das sie zurückkehren.

Es geht an dieser Stelle nicht um Weltanschauungen, Glaubensartikel oder Bekenntnisse, sondern um die schlichte Empirie innerer Erfahrung. So wie Liebe oder Schönheit erfahrbare Dinge sind, auch wenn viele Menschen sie schmerzhaft vermissen oder sogar leugnen, so ist das größere Ganze, in der Sprache der indischen Geistigkeit und der modernen Psychologie das "Selbst", eine Erfahrungstatsache.

Wenn jemand die Erfahrung des Selbst gemacht hat, will er sie auch ausdrücken und formulieren. Dann kommt es zu Benennungen wie: Die Gottheit, das Ganze, das Nichts, das Wesen, der Kern, das Tao, die Buddha-Natur, der innere Christus usw... Erst später kommt es zu Sprachregelungen, Gruppenbildungen, Traditionslinien usf. bis hin zu den mächtigen Bauten religiöser Großorganisationen. Die Erfahrung liegt als Quelle dem allen voraus. Sie ist frei, absolut, auf nichts anderes angewiesen, sie bedarf keiner Begründung oder Rechtfertigung außer durch sich selbst.

Als Thomas von Aquin, der Schöpfer einer vielbändigen summa theologica, diese Erfahrung machte, soll er gesagt haben: Alles, was ich bisher geschrieben habe, ist wie Stroh. Und er soll von diesem Augenblick an keine einzige theologische Zeile mehr niedergeschrieben haben.

Jemand, der das Ganze erfahren hat, der zu seinem Wesen durchgebrochen ist, hat in dem Maß dieser Erfahrung die Angst um sein kleines Ich verloren. Er weiß um die Sinnhaftigkeit des Ganzen - nicht im Kopf, sondern wie die Japaner sagen: im Bauch. Er braucht um sein kleines Leben nicht zu fürchten, auch wenn er vielleicht Ängste empfinden wird, wenn er sich von dieser Erfahrung entfernt. Aber in dem Maß, in dem er zu seinem Wesen durchgebrochen ist, ist er im Frieden. Und er weiß um diesen Frieden als einen inneren Ort, zu dem er immer wieder zurückkehren kann.

Aber es gilt auch zu beachten: Eine tiefe Erfahrung machen, ist eines, sie in all sein Erleben und Tun zu integrieren, ist etwas anderes, unendlich Schwierigeres. Deswegen sagen die Zen-Leute, dass mit der Erleuchtung die Arbeit nicht aufhöre, sondern in einem gewissen Sinn erst anfange. Mir erscheint es sehr schwer, wie ein einzelner Mensch, geschweige denn eine Gruppe, dem Frieden näher kommen will, wenn er oder sie sich nicht auf den Weg zu einem Ort machen, in dem sie keine Angst mehr um sich zu haben brauchen. Dieser Ort ist das große Ganze, das Selbst. Es ist lebendig im Inneren eines jeden Menschen, ja in allem, was ist. Es kann sehr verschieden benannt werden und davon zu schweigen, ist auch eine Weise, es anzuerkennen. Wir sollten uns die Freiheit geben, es in vielen Namen oder Nicht-Namen zu ehren. Denn es ist unendlich viel größer als alles, was wir von ihm wissen oder ausdrücken können. Wer an diesem inneren Ort ist, ist wirklich im Frieden.

 

Die Begegnung mit dem Schatten, oder: Innenkämpfe

So verlockend und erstrebenswert dieser Friede "höher denn alle Vernunft" auch erscheinen mag, der Weg dorthin führt durch mancherlei Kämpfe. Es sind keine Kämpfe im Außenbereich, gegen andere Menschen; der zu überwindende Gegner bin zuerst wie zuallerletzt ich selber. Wer sich für die Meditation entscheidet, der wählt deswegen kein einfaches Leben. Kein meditativer Weg verzichtet auf den Blick in den Spiegel, der mit den Schattenseiten der eigenen Existenz konfrontiert. Wie in Oscar Wilde's Bildnis des Dorian Gray springt mir dann die eigene abgrundtiefe Hässlichkeit in die Augen, meine schlummernde Brutalität und Gewissenlosigkeit. Nein, es ist nicht angenehm, in den eigenen Abgrund zu blicken!

Die Schilderungen des Lebens und Erlebens von ernsthaft Meditierenden sind in der Tat voller Schilderungen innerer Kämpfe, die für unsere Augen und Ohren manchmal sogar pathologisch anmuten. Die Gewalt solcher Energien ähnelt Erscheinungen, wie sie in unseren Entzugskliniken Drogen- oder Alkoholabhängige durchmachen. Denn die Begegnung mit den eigenen Schattenseiten schließt die Begegnung mit der eigenen Ahnungslosigkeit, der eigenen Aggressivität, Verzweiflung, Schuld, ja Mordlust mit ein. All das taucht auf, um geklärt und verwandelt zu werden.

Beschreibungen solcher Wandlungswege finden sich in den großen Dokumenten der Menschheit. In der Gralserzählung, einer symbolischen Geschichte, die besonders exakt die Entwicklung des Mannes zu Beginn der Neuzeit reflektiert, begegnet Parzival, der unwissende, an die Mutter gebundene Jüngling, nachdem er zum ersten Mal an König ArtusHof war, dem Roten Ritter, einer Versinnbildlichung der eigenen Aggressivität. Diesen Roten Ritter tötet er - er sticht ihn durchs Auge. Dann zieht er sich dessen Kleider und Rüstung an. Mit anderen Worten: er begegnet seiner Aggression und übernimmt sie. Er wird stark genug, die Energie, die in seiner Wut steckt, seinem Ich zu unterwerfen. Damit ist ihm etwas Entscheidendes gelungen: die eigene Aggressivität ist bewusst geworden. Ihre Energie ist zwar noch mächtig, aber sie übermannt ihn letztendlich nicht mehr. Bezeichnenderweise geht das Pferd des Roten Ritters, als er es besteigt, erst einmal mit ihm durch. Er kann es nicht anhalten, bis es von selber müde wird. Aber zunehmend kann er diese Gewalt kontrollieren, ja er kann sich vor anderen zu ihr stellen. Er ist dem Waffengang nicht ausgewichen, sondern hat ihn als Aufgabe angenommen, die es zu meistern gilt. (s. 19)

Ähnliches und Erstaunliches findet sich in der Moses-Erzählung in der jüdischen Bibel. Dort erschlägt der junge Moses aus Zorn über die Ungerechtigkeiten der herrschenden Klasse einen Ägypter und flieht, als die Tat bekannt wird. So verständlich seine Empörung erscheint, er ist durch sie zum Mörder geworden. Ähnlich wie im Gralsmythos beginnt damit aber erst die Entwicklung des Helden. Durch viele Erlebnisse und Entscheidungen, durch Proben und Nöte hindurch wird aus Moses, dem Mörder, seine vielleicht höchste Möglichkeit: derjenige, der Gottes Gebot verkündet "Du sollst nicht töten!" (.s. 20)

Auch in dem Epos des religiösen Indiens, der Bhagavadgita, ist die Auseinandersetzung des einzelnen mit dem Krieg ein wichtiges Thema. Dort ist die zentrale Gestalt Arjuna, ein junger König, der vor der Schlacht, zu der er das Zeichen geben soll, von Gewissensbissen geplagt wird. Er wird von der Gottheit Krischna angerufen und belehrt:
Dem Geborenen ist der Tod gewiss, dem Toten ist die Geburt gewiss. Darum sollst du über eine unvermeidliche Sache nicht trauern. ... Der im Körper von uns allen weilt, o Bharata (Arjuna), ist ewig, unzerstörbar. Darum sollst du kein Wesen beklagen. ... Nicht spalten ihn die Schwerter, nicht brennt ihn das Feuer, nicht benetzen ihn die Wasser, nicht trocknet ihn der Wind. Er kann nicht gespalten, nicht verbrannt, nicht benetzt und nicht ausgetrocknet werden. Er ist ewig, allgegenwärtig, unwandelbar, unbeweglich, immer während. ... Rüste dich zum Kampfe, nachdem dir Freude und Leid, Gewinn und Verlust, Sieg und Niederlage gleichgültig geworden sind. So wirst du nicht in Schuld geraten. (s. 21)
Paradoxerweise beginnt der Weg zur Gewaltlosigkeit also in der Tat mit dem Ja zu einem Kampf. Die Projektion, dass der andere der Böse sei, muss zurückgenommen werden. Es darf nicht mehr die primitive Psychologie des Krieges gelten, die alles, was ich und das eigene Lager tut, für gut erklärt, das, was die anderen denken und unternehmen, aber für verwerflich. Vielmehr erinnert mich alles, was der andere tut, auch an mich selber. Der eine Finger, mit dem ich auf andere zu zeigen gewohnt bin, wächst ja neben drei anderen, die auf mich selber zurückverweisen.

Wer solche Projektionen zurücknimmt und seine eigenen Schattenkräfte bewältigt, gewinnt auf entscheidende Weise innere Wahrhaftigkeit. Dazu wächst sein Einfühlungsvermögen in andere Menschen. Er kann das Erleben eines anderen in sich widerklingen lassen: sowohl das Erleben des Opfers wie das des Täters. Anne Frank wird zu seiner Schwester und sogar Adolf Eichmann zu seinem Bruder.

An einem unausweichlichen Punkt innerer Vertiefung kommt Meditation schließlich auch mit den mörderischsten Waffen des Menschengeschlechts in Berührung. Angesichts der Atombombe wird sie zur Bombenmeditation. Die Atombombe wurde gebaut, um sich verteidigen zu können. In Wahrheit hat sie ihren Besitzern jedoch eine beispiellose Wehrlosigkeit eingebracht. Bevor sie technisch realisiert werden konnte, war sie als psychische Möglichkeit in unserem Inneren. Der Kulturkritiker Peter Sloterdijk sieht in ihr das zynische Resultat der modernen Weltentwicklung:
Die Bombe ist keine Spur böser als die Wirklichkeit und um kein Haar destruktiver als wir. Sie ist nur unsere Entfaltung, eine materielle Darstellung unseres Wesens. Sie ist bereits als Vollkommenes verkörpert, während wir im Verhältnis zu ihr noch gespalten sind. Angesichts einer solchen Maschine sind nicht strategische Erwägungen am Platz, sondern ein großes Hinhorchen. Die Bombe fordert von uns weder Kampf noch Resignation, sondern Selbsterfahrung. Wir sind sie. In ihr vollendet sich das westliche "Subjekt". Unsere äußerste Bewaffnung macht uns wehrlos bis zur Schwäche, schwach bis zur Vernunft, vernünftig bis zur Angst. Die einzige Frage bleibt, ob wir den äußeren Weg wählen oder den inneren - ob die Einsicht aus der Besinnung kommen wird oder aus den Feuerbällen über der Erde. ... Der moderne Weltprozess führte zu einem Punkt, von dem an das Äußerlichste, die Politik, und das Innerlichste, die Meditation, dieselbe Sprache sprechen; beide kreisen um den Grundsatz, dass nur "Entspannung" noch weiterhilft. Alle Geheimnisse liegen in der Kunst des Nachgebens, des Nichtwiderstehens. ... Große Politik ist heute letztlich Meditation über die Bombe, und tiefe Meditation sucht in uns den bombenbauenden Impuls auf. (s. 22)
 

Wehrlos werden können

In einer bemerkenswerten Aufzeichnung hat schon Friedrich Nietzsche 1880 die Gefährlichkeit von Schattenprojektionen auf den Feind benannt. Sie ist selbst in einer so harmlos aussehenden Sache wie dem Argument der Notwehr vorhanden.
Das Mittel zum wirklichen Frieden - Keine Regierung gibt jetzt zu, dass sie das Heer unterhalte, um gelegentliche Eroberungsgelüste zu befriedigen; sondern der Verteidigung soll es dienen. Jene Moral, welche die Notwehr billigt, wird als ihre Fürsprecherin angerufen. Das heißt aber: sich die Moralität und dem Nachbar die Immoralität vorbehalten, weil er angriffs- und eroberungslustig gedacht werden muss, wenn unser Staat notwendig an die Mittel der Notwehr denken soll; überdies erklärt man ihn, der genau ebenso wie unser Staat die Angriffslust leugnet und auch seinerseits das Heer vorgeblich nur aus Notwehrgründen unterhält, durch unsere Erklärung, weshalb wir ein Heer brauchen, für einen Heuchler und listigen Verbrecher, welcher gar zu gern ein harmloses und ungeschicktes Opfer ohne allen Kampf überfallen möchte. So stehen nun alle Staaten jetzt gegeneinander: sie setzen die schlechte Gesinnung des Nachbars und die gute Gesinnung bei sich voraus. Diese Voraussetzung ist aber eine Inhumanität, so schlimm und schlimmer als der Krieg: ja, im Grunde ist sie schon die Aufforderung und Ursache zu Kriegen, weil sie, wie gesagt, dem Nachbarn die Immoralität unterschiebt und dadurch die feindliche Gesinnung und Tat zu provozieren scheint. Der Lehre von dem Heer als einem Mittel zur Notwehr muss man ebenso gründlich abschwören als den Eroberungsgelüsten.
Wenn selbst das Notwehrdenken sich als "Aufforderung und Ursache zu Kriegen" herausstellt, dann ist eine sogenannte Verteidigungsstrategie nicht friedliebend, sondern kriegslüstern. Der Gegner wird abqualifiziert. Mord beginnt beim bösen Wort. Was aber ist zu tun? Bei einem so sehr für falsche Zwecke eingespannten und deswegen von Befürwortern wie Gegnern dieser Zwecke gleichermaßen missverstandenen Autor wie Friedrich Nietzsche wird man wohl kaum das Folgende erwarten. Und doch hat er es geschrieben:
Und es kommt vielleicht ein großer Tag, an welchem ein Volk, durch Kriege und Siege, durch die höchste Ausbildung der militärischen Ordnung und Intelligenz ausgezeichnet und gewöhnt, diesen Dingen die schwersten Opfer zu bringen, freiwillig ausruft: "wir zerbrechen das Schwert" - und sein gesamtes Heerwesen bis in seine letzten Fundamente zertrümmert. Sich wehrlos machen, während man der Wehrhafteste war, aus einer Höhe der Empfindung heraus, - das ist das Mittel zum wirklichen Frieden, welcher immer auf einem Frieden der Gesinnung ruhen muss: während der sogenannte bewaffnete Friede, wie er jetzt in allen Ländern einhergeht, der Unfriede der Gesinnung ist, der sich und dem Nachbarn nicht traut und halb aus Hass, halb aus Furcht die Waffen nicht ablegt. (s. 23)
Wovon Nietzsche träumte ("sich wehrlos machen ... aus einer Höhe der Empfindung heraus"), das kann die Frucht langjähriger, existentieller Meditation werden: sich wehrlos machen aus der Tiefe innerer Erfahrung heraus. Eine Erfahrung, die die Gemeinheit menschlichen Denkens und Handelns nicht leugnet, sondern sie gerade zum Anlass nimmt, mehr zu lieben und weniger Macht auszuüben.

Diese Wehrlosigkeit hat nichts mit der Kraftlosigkeit derer zu tun, die sich nicht wehren können, sei es, weil ihnen die äußeren Mittel, also Waffen, dazu fehlen oder weil Konfliktscheue ihre Persönlichkeit bestimmt. Die Wehrlosigkeit als Frucht tiefer Meditation besteht im Verzicht auf Mittel, die ich sehr wohl zur Verfügung habe. Sie besteht im Verzicht auf Rechte, die mir zustehen, von denen ich aber keinen Gebrauch mache. Einwilligen lernen nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, auf den Waffengang verzichten nicht aus Feigheit, sondern aus ungemein größerem Mut.

Das, was so leicht als realitätsferne Utopie erscheint, wurde und wird immer wieder von einzelnen Menschen gelebt. Als Jesus von Nazareth verhaftet wurde und es ihm ganz klar war, dass er zum Tode verurteilt und hingerichtet würde, verzichtete er auf Gegenwehr, zu der seine Schüler sehr wohl bereit waren. Mahatma Ghandi gelang es, Indien ohne großes Blutvergießen in die Unabhängigkeit zu führen. Martin Luther King schulte seine Anhänger systematisch in der politischen Strategie und spirituellen Disziplin der "non-violent action". Nikolaus von der Flüe konnte gerade mittels seiner Zurückgezogenheit und durch seine intensive Meditationspraxis zum Vermittler zwischen verfeindeten Kantonen werden. Ihre Namen kennen wir noch, während die Namen beteiligter Militärs oder Politiker längst vergessen sind. (s. 24)

Die Aufforderung, letztlich auf die Ausübung von Gewalt zu verzichten, eher zu leiden, denn Unrecht zu tun, ist gemeinsames geistiges Gut der religiösen Hauptdokumente der Menschheit: des Neuen Testaments, der Bhagavadgita, des Daodejings usf. Jede Meditation zehrt von der Weisheit der Religionen, auch wenn sie nicht in ihrem institutionellen Rahmen geübt wird.

Die Meditation aber stellt solche Gewaltlosigkeit nicht als moralische Forderung auf, sondern zeigt den inneren Weg, wie der einzelne dazu fähig wird, sich gewaltlos verhalten zu können. Der Weg der Meditation ist der Weg in eine Tiefe, in der ich keine Angst mehr um mein kleines Ich zu haben brauche, in der mir statt dessen die ganze Welt nahe kommt und ich lerne, auch ihren Schattenseiten liebevoll zu begegnen.

Es liegt nicht in unserer Macht, zu bestimmen, ob ein verheerender nächster Weltkrieg geführt wird oder ob er verhindert werden kann. Aber es liegt sehr wohl in unserer Macht, zu bestimmen, wie wir uns jetzt und im Ernstfall verhalten wollen. Wenn alle äußeren Wege versagt haben sollten und die Vernichtung unaufhaltsam erscheint, so ist der Weg nach innen noch immer nicht versperrt. Vielleicht kann eine Geschichte, die von Bokusan, einem japanischen Zen-Meister handelt, klarmachen, was selbst in extremen Lebenssituationen noch möglich ist:
Während der Unruhen des 19. Jahrhunderts suchte ein flüchtender Samurai Schutz im Tempel des Soto-Zen-Meisters Bokusan. Die Verfolger kamen und wollten wissen, wo der Flüchtende sei. "Niemand da" sagte der Zen-Meister. "Wenn du nicht sprechen willst, werden wir dir den Kopf abhauen," und sie zogen ihre Schwerter. "Wenn ich nun also sterben soll," sagte der Zen- Meister, "denke ich, werde ich ein wenig Wein zu mir nehmen". Dann holte er eine kleine Flasche herunter, schenkte ein und schlürfte mit offensichtlichem Behagen. Die Samurai blickten sich an. Schließlich gingen sie davon.
Bokusan wurde wiederholt über diesen Vorgang befragt, wollte aber nicht darüber sprechen. Einmal jedoch sagte er: "Nun, davon kann man etwas lernen. Als diese Burschen kamen, tat ich nicht, was sie wollten, stritt mich aber auch nicht mit ihnen oder hielt Fürbitte. Ich gab einfach ihre ganze Welt auf und hatte nichts mit ihnen zu tun. Und nach einiger Zeit sah ich, dass sie gegangen waren. Ebenso sollten Leute, wenn sie klagen, dass sie von Leidenschaften oder falschen Gedanken überwältigt werden, wissen, dass der rechte Weg nicht Zanken oder sich Verteidigen und Argumentieren ist. Gib einfach jeden Anspruch auf ihre Welt auf und habe nichts mit ihnen zu tun und nach einiger Zeit wirst du feststellen, dass sie gegangen sind." (s. 25)
 
überarbeitete Text-Version, ursprünglich in "Vorläufige Texte", Münster, 1987, S. 19 ff.

Günter W. Remmert M.A., Seminarhaus SCHMIEDE


1. Laozi, Daodejing. Übersetzung nach: Lao Tse, Tao Te King. Das Buch vom Sinn und Leben. Übers. v. Richard Wilhelm. Diederichs Gelbe Reihe Bd. 19, Eugen Diederichs Verlag Köln 11978, 1984, Spruch 76.
2. Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft. 2 Bände. edition suhrkamp 1099. Suhrkamp Verlag Frankfurt 1983, S. 260
3. Carl Friedrich von Weizsäcker, Der ungesicherte Friede. Kleine Vandenhoeck-Reihe 1300. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1969, 1979, S. 10
4. Zeile aus dem Gedicht "Einer wird den Ball nehmen" von Nelly Sachs. In: Nelly Sachs, Ausgewählte Gedichte. Nachwort von Hans Magnus Enzensberger. edition suhrkamp 18, Suhrkamp Verlag Frankfurt 1963, S. 59
5. Hermann van Veen, Unter einem Dach. Notizen eines Clowns. [Originalausgabe: Onder een Dak. Fontein 1982] rororo 5124.
Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek bei Hamburg 1982, 81985, S. 7
6. Einen guten Überblick über die verschiedenen Methoden gibt: Claudio Naranjo, Robert E. Ornstein, Psychologie der Meditation. [Originalausgabe: On the Psychology of Meditation. Viking Press, Inc., New York 1971] Fischer TB 1811, Fischer Taschenbuchverlag Frankfurt 1976, 1980
7. Carl Happich, Anleitung zur Meditation. Darmstadt 1948
8. Karlfried Graf Dürckheim, Erlebnis und Wandlung. Grundfragen der Selbstfindung. Scherz Verlag Bern München 1978, Otto Wilhelm Barth Verlag München 1982, S. 201 ff.
9. Ignatius von Loyola (1491 - 1556), Die Exerzitien. Übertragen von Hans Urs von Balthasar. Johannes Verlag Einsiedeln 1954
10. Schu Gua, Kommentar zum I Ging, übersetzt von Richard Wilhelm. Zitiert in: Nyanaponika, Geistestraining durch Achtsamkeit. Die buddhistische Satipatthana-Methode. Verlag Christiani Konstanz 1984, S. 131
11. Carl Gustav Jung, Psychologie und Religion. In: Carl Gustav Jung, Grundwerk in 9 Bänden. Hrsg. v. Helmut Barz, Ursula Baumgardt, Rudolf Blomeyer, Hans Dieckmann, Helmut Remmler, Theodor Seifert. Walter Verlag Olten 1984, S. 54-55
12. Paulus im Römerbrief, Kapitel 7, 15-19
13. Sigmund Freud, Warum Krieg? In: Sigmund Freud, Werkausgabe in zwei Bänden, Band 1: Elemente der Psychoanalyse, Band 2: Anwendungen der Psychoanalyse. S. Fischer Verlag Frankfurt 1978, S. 489
14. Carl Friedrich von Weizsäcker, Wege in der Gefahr. Eine Studie über Wirtschaft, Gesellschaft und Kriegsverhütung. Carl Hanser Verlag München 11976, dtv 1452. Deutscher Taschenbuchverlag München 11979, 31981, S. 265
15. Ignatius von Loyola, Die Exerzitien. Übertragen von Hans Urs von Balthasar. Johannes Verlag Einsiedeln 11954, 51965, Nr. 62
16. Laozi, Daodejing. Übersetzung nach: Lao Tse, Tao te king. Das Buch vom Sinn und Leben. Übersetzt und mit einem Kommentar von Richard Wilhelm. Diederichs Köln 11978, 1984. Aus Spruch 14
17. Aurelius Augustinus (354 - 430), Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart. Kösel Verlag München 11955, 31966. Kapitel X, 6,8
18. Dogen Kigen, Shobogenzo. Vgl. Heinrich Dumoulin, Geschichte des Zen-Buddhismus. Band II: Japan. Francke Verlag Bern 11986, S. 67
19. Robert A. Johnson, Der Mann. Die Frau. Auf dem Weg zu ihrem Selbst. [Originalausgabe: He! A contribution to understanding masculine psychology. Religious Publishing, King of Prussia 1974. She! A contribution to understanding feminine psychology. Religious Publishing, King of Prussia 1976] Walter Verlag Olten 11981, 21983, S. 31-39
20. Buch Exodus, Kap. 2,20
21. Bhagavadgita II, 27, 30, 23-24, 38. Vgl. den Kommentar von S. Radhakrishnan: "Krsna rät dem Arjuna, ohne Leidenschaft und Böswilligkeit, ohne Zorn und ohne Anhänglichkeit zu kämpfen. Wenn wir eine solche Geisteshaltung entwickeln, wird alle Gewalt zunichte. Wohl müssen wir gegen das Böse kämpfen, doch führt es zu unserer eigenen geistigen Niederlage, wenn wir uns selbst zum Hass verleiten. Es ist unmöglich, in einem Zustande absoluter Gelassenheit und Versenkung in Gott, Menschen zu töten." (Hrsg.:) S. Radhakrishnan, Die Bhagavadgit. Einleitung. Kommentar. Übersetzung. Sanskrittext. Übers. v. Siegfried Leinhard. [Originalausgabe: The Bhagavadgita. George Allen & Unwin Ltd., London] R. Löwit Verlag Wiesbaden, S. 78
22. Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft. Erster Band. Edition Suhrkamp 1099, Suhrkamp Verlag Frankfurt 1983, S. 259-260
23. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, 2. Der Wanderer und sein Schatten. Nr. 284 (1880) In: Friedrich Nietzsche, Werke I-V. Hrsg. v. Karl Schlechta. Carl Hanser Verlag München 61969, Ullstein Buch Nr. 2907-2911. Verlag Ullstein Frankfurt 1972, S. 986-987
24. Hans Ulrich Jäger, Politik aus der Stille. Theologischer Verlag Zürich 1980
25. Claudio Naranjo, Robert E. Ornstein, Psychologie der Meditation. [Originalausgabe: On the Psychology of Meditation. Viking Press, Inc., New York 1971] Fischer TB 1811. Fischer Taschenbuchverlag Frankfurt 11976, 31980, S. 77-78