In Kreisen denken

Oder: Wozu sich Krankheits-Diagnosen als nützlich erweisen können...

Auf der Basis systemtheoretischer Erkenntnisse, die eine radikal veränderte Sicht auf soziale Systeme fördern wollten, entwickelten sich seit den 40erJahren des 20. Jh. die ersten systemischen Therapieformen, die jedoch immer noch davon ausgingen, daß es eine mögliche "richtige" Instruktion für das System gebe, daß bloß die angemessene Intervention gefunden und gesetzt werden müsse, um ein krankes System in ein gesundes System gemäß der Kriterien der Therapeuten verwandeln zu können. 

Die frühen Vertreter der Systemtherapie (Kybernetik 1. Ordnung)  gingen in den 40er-Jahren noch von Diagnosen eines dysfunktionalen Familiensystems aus und versuchten Interventionen so zu setzen, daß die Familie sich mit deren Hilfe in ein aus ihrer Sicht funktionales System verwandeln konnte. Es ging im Grunde noch um das selbe vertraute Denk-Muster, die Krankheit verursachende Sache herauszufinden, um heilen zu können: Du bist der Patient und suchst mich auf. Denn ich bin der Arzt und sage Dir, was Dir fehlt. Es ist mein Auftrag, das herauszufinden und Dir zu geben, was Du brauchst, um gesund zu werden.

Auf der diagnostischen Suche nach Dysfunktionalität stützte man sich in der Familientherapie zunächst weiterhin auf eine Bewertung, was als funktional und was als dysfunktional zu bewerten sei und versuchte die Ursache für die definierte Dysfunktionalität im Familiensystem zu finden und auszuschalten, um so eine Anpassung an die eigenen Vorstellungen von funktionalen Systemen zu erreichen. Systemtheoretiker und Systemtherapeuten der 1. und 2. Ordnung bereiteten dennoch gemeinsam den Weg, um zukünftig dem Phänomen "Krankheit" grundlegend anders als bisher begegnen zu können.

In langwierigen Auseinandersetzungen mit ihren angewandten therapeutischen Konzepten entwickelten sie Alternativen zu Vorstellungen einer linearen Kausalität, die in Konzepten der therapeutischen Instruierung  zu behandelnder (Familien)-Systeme immer noch fortbestand. Man kam noch nicht auf die Idee, die sogenannte "Krankheit" als erfolgreiche Lösung des Systems aufzufassen, deren Nutzen man lediglich noch nicht erkannt hatte.  

Die  gegensätzliche Zweiteilung der Welt in Gut und Böse,  in Kranke und Gesunde, Patienten und Ärzte, Leidende und Könnende, funktionierte zwar schon mit den frühen Formen systemischer Denk- und Arbeitsansätze nicht mehr so reibungslos. Aber sie war da wie die Luft zum Atmen, sie prägte zwangsläufig das Denken und wirkte sich auf bewährte Weise aus, während die therapeutischen Absichten schon ganz andere waren.

Die späteren kritischen Diskussionen zwischen Vertretern älterer und jüngerer systemtherapeutischer Ansätze gingen im Grunde von diesem Widerspruch aus. Immer deutlicher ging es nun um die Machtfrage, ob es dem Therapeuten überhaupt möglich sei, Systeme strategisch gezielt verändern zu können, bzw. wer (Therapeut oder System?) was bewirkt. In der Folge entwickelten sich systemisch therapeutische und beraterische Ansätze zunehmend in Richtung auf ein Konzept der Kooperation und der Gestaltung konstruktiver Dialoge. “Es geht zunehmend darum, festgefahrene, starre Mono- oder auch Dialoge in Systemen durch sprachlich bewegte Angebote zu öffnen, gemeinsam mit dem System daran zu arbeiten, eine Vielfalt von Perspektiven zuzulassen - und nicht die eine durch die eine andere zu ersetzen.” (A.v. Schlippe, J. Schweitzer, Göttingen 1998)

Das zu beratende oder zu therapierende System sollte nun per Definition mit seinem bisher auch erfolgreich stabilisierten So-Sein in den Mittelpunkt der gemeinsamen Arbeit gestellt werden. Folglich sollte auch der zu erwartende Nutzen dieser Arbeit von dem System definiert werden, das die Experten-Kooperation in Anspruch nimmt. Dennoch ließ sich so nicht per Definition die Differenz zwischen Leidenen und Helfenden  abschaffen. Denn Leidende definieren sich nach wie vor selbst als Leidende und suchen ihren Heiler oder ihre Heilerin auf, um sich zu gesunden. Auch soll hier nicht die "dualistische Denke" im Vergleich mit der "systemischen Denke" als untauglich bewertet werden. Der Vergleich soll hier nur dazu dienen, einige generelle Auswirkungen des Denkens zu betrachten, das immer auch therapeutische und beraterische Haltungen und daraus folgende Handlungen beeinflußt. 

Auch ist jegliches Denken nur unter Berücksichtigung seines historischen und weltanschaulichen So-Geworden-Seins zu verstehen. Es handelt sich um einen Prozeß, infolgedessen z.B. Freud's Psychoanalyse der 30er Jahre in Wien nicht mit der praktizierten Psychoanalyse am Ende des 20. Jahrhunderts in Deutschland gleichgesetzt werden kann.

Nach wie vor kann die angewandte Psychoanalyse als sorgfältig reflektiert eingesetzte therapeutische Arbeitsform sehr wohl dazu dienen, oben beschriebene Entweder-Oder- Normierungen zu verstehen und nach und nach zu entkräften, die sich sonst als regelrecht eintätowiert erweisen, wenn es um Versuche geht, eigene Entscheidungen zu treffen, statt immer danach zu schauen, was man tun und was man lassen sollte. Die Wirksamkeit des Gewissens kann sich symptomatisch als ausbruchssicheres Gefängnis erweisen, ohne daß man sich so genau erinnern könnte, wer einen eigentlich da hineingesteckt hat. Dann kann man sich mit Hilfe einer Psychotherapie auf eine Entdeckungsreise begeben, die dabei unterstützen kann, die eigene Geschichte nach langjährigen Wiederholungen soweit zu erforschen, bis man sie im Idealfall mit selbstgewählten Maßstäben weitererzählend selbst zu gestalten beginnt. 

Auch auf diesem Weg kann gelernt werden, Wiederholungen wohlwollend als noch nicht verstandene systemische Geschichten zu begreifen, die genau so lange wiederholt werden müssen, bis sie Klarheit über das eigene Dasein ermöglichen, bis die maßgeblichen Werte und Normen, die für das eigene Leben gelten sollen, bewußt gesetzt und gestaltet werden können.

Ein oft gehörter Vorwurf, mit dem die Psychoanalyse als angemessene Form der Psychotherapie abgelehnt wird, ist der, daß sie letztlich nur eine individuelle Anpassung erzeugt, damit sich individueller Leidensdruck nicht mehr als störende Gesellschaftskritik äußern kann. Ein solcher Vorwurf mit so pauschaler Ablehnung ist sicher nicht berechtigt. Dennoch ist eine kritische Betrachtung (auch) dieser Therapieformen angebracht. Denn nach wie vor ist das erklärte Ziel psychoanalytisch orientierter therapeutischer Ansätze die Heilung von diagnostizierten Krankheiten. Dem Urteil, was allgemein als krank zu bewerten ist, können sich aber weder die aufgeschlossensten Psychoanalytiker noch Systemtherapeuten entziehen. 


Wege zur Balance

Bereits die Wahrnehmung dieses Dilemmas eröffnet Chancen, es aus einer anderen Sicht wahrzunehmen. Man könnte es schlicht als nicht lösbar akzeptieren. Wer Ideen, Werte und Ideale hat, wird sie auch vertreten und so immer auch wertenden Einfluß auf andere nehmen.  Ein bewußtes Leben mit diesem Dilemma kann jedoch die Aufmerksamkeit schärfen und dazu führen, den Blick immer wieder auf potentiell viele größere Ganze zu richten. Von zentraler Bedeutung ist dann immer wieder die Frage nach der Weite (und den angewandten Modellen) der eigenen Wahrnehmung in der gegebenen Situation, um deren Erweiterung man sich im fortlaufenden Prozeß des Lebens immer weiter bemühen kann. 

Unser ganz alltägliches Denken ist dabei trotz aller Bemühungen, beweglicher zu werden, recht beständig. Es beharrt auf seinen linearen Denkmustern, die Polarisierung sowohl voraussetzen als auch nach sich ziehen. Je mehr man versucht, sich davon frei zu machen, desto schwieriger wird es. Denn Menschen denken in Gegensätzen sowie einem Vorher und Nachher, weil das Denken gar nicht anders kann. 

Bloß versäumen wir es dann meistens, das denkend Getrennte wieder zusammenzufügen und wenigstens versuchsweise ein größeres Ganzes zu betrachten. Statt dessen wird meist der nicht akzeptable Gegensatz aus der eigenen Person ausgeschlossen, indem er beim Gegner gesehen wird, an dem man das Abgelehnte und Ausgeschlossene leichter bekämpfen kann. Dieses Phänomen ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Es war schon weltweit vor Tausenden von Jahren in Kulturen bekannt, in denen man sicher nicht über Psychologie und Projektionen debattierte, aber um die Gefahr solcher Fehlwahrnehmungen und Fehleinschätzungen sowie daraus folgender Haltungen und sozialer Konsequenzen sehr wohl wußte.

In solcher ausschließlichen, rechthaberisch streitbaren Haltung nähren wir auch die Basis für das Ausbrechen von Kriegen. Sie ist eine wirkungsvolle Grundlage für die vertrauten alltäglichen "Kleinkriege" in kleinsten gesellschaftlichen Einheiten. Wenn zwischen Freunden, Nachbarn, Kollegen und Familienmitgliedern, die aus wohl erwogenen Gründen nicht mehr miteinander sprechen, immer länger andauernde Funkstille herrscht und friedfertige weitergehende Kommunikation so lange nicht in Betracht gezogen wird, bis sie unvorstellbar geworden ist..., dann praktizieren wir in uns selbst - sowie in und mit unseren benachbarten Systemen die ganz alltägliche Polarisierung - bzw. im wahrsten Sinne des Wortes den Extremismus.  

Wenn die Extreme in der Person selbst, zwischen Personen, Interessengruppen, Institutionen und Nationen einander nicht mehr begegnen und kommunizieren können, wächst die Gefahr, daß die unreifste Konfliktbewältigungsstrategie zum Zuge kommt, die in sozialpsychologischen Theorien auch als Vernichtung des Gegners beschrieben wird. "Vorteil des Vernichtungskampfes ist es sicherlich, daß der Gegner rasch und dauerhaft beseitigt wird. Der Nachteil dieser Konfliktlösungsart besteht im wesentlichen darin, daß mit dem Verlust des Gegners gleichzeitig auch der Verlust einer Alternative mitgegeben ist, d.h. Entwicklung wird in einem sehr starken Ausmaß gefährdet, da ganz selten ein Gegner immer nur Unrecht hat und nichts an Richtigem vertritt. In der Vernichtungsstrategie sind Fehler nicht korrigierbar." (G.Schwarz, Opladen, 1985)

Die Befürchtung von Menschen, sie müßten sich ändern, etwas an ihnen sei falsch, wenn sie mit einer psychoanalytischen Therapie oder einer systemischen Beratung, einem Supervisionsprozeß oder einem Training beginnen, wurzelt wohl ebenso tief in den zuvor beschriebenen polarisierten linearen Denkmustern, von denen sich auch die Vertreter systemischer Therapieformen nicht von jetzt auf gleich verabschieden konnten. Und wozu denn auch?  Der Blick auf die Welt verändert sich (auch bei Forschern, Theoretikern und Therapeuten) allmählich, er wird weiter. Im Idealfall wird er wohlwollender und mitfühlender. Es wandelt sich die Sicht auf die eigene Geschichte und im direkten Erleben auch die Sicht auf die Welt. 

Man könnte solche Wandlungsprozesse auch ein wachsendes in sich selbst Zuhause-Sein nennen, was wesentlich daran beteiligt ist, sich genauso in der Welt zuhause zu fühlen. Das eine ist immer im Zusammenhang mit dem andern zu sehen: Wer nicht in sich ist, kann nicht über sich selbst hinaus fühlen. Die Lebens-Geschichte bleibt dabei als Basis der immer nächsten Selbst-Entdeckungsschritte von einer ganz beruhigenden Stabilität. Auch hier kann es nicht darum gehen, eines durch ein anderes (von Fachleuten empfohlenes) zu ersetzen, sondern die arbeitende, therapierende, beratende und lehrende Aufgabe stellt sich anders. 

Es ist die Entdeckung der Vielfalt von Perspektiven und Analogien zwischen Geschichten und Menschen, Ideen und Konzepten auf einem kommunikativen Weg zu ermöglichen, der diese Vielfalt nicht einschränkt, sondern ein Lernen anhand der angewandten (auch gegensätzlichen) Konzepte ermöglicht. Das wäre eine Art von "Paradigmenwechsel", der sich nicht revolutionär alle 20 Jahre vollzieht, sondern ein alltäglich übendes, auch sich selbst beobachtendes "Brille-Wechseln", um von einander zu lernen und sich gegenseitig leben zu lassen.

Es ist schon schwer vorstellbar, daß nicht die Welt oder man selbst sich verändert, sondern zunächst einmal die eigene Sicht auf die Welt, bzw. die eigene Konstruktion von Welt. Denn es werden ja  immer wieder nacheinander verschiedene Schichten und Aspekte der Welt in sich nachvollzogen. Die Illusion der Veränderung entsteht durch die Polarität, die das Gleichzeitig in ein Nacheinander und das Sowohl- Als-Auch in ein Entweder-Oder zerlegt.

Verhindert die Polarität die Einheit in ihrer Gleichzeitigkeit, so wird sie über den Umweg der Zeit direkt wieder hergestellt, indem jeder Pol durch die Nachfolge seines Gegenpols ausbalanciert wird. Wir glauben fest daran, daß sich durch die Zeit sehr viel verändert, und dieser Glaube verhindert zu sehen, daß die Zeit nur Wiederholungen des gleichen Musters produziert. Die Zeit verwandelt das Seiende in Abläufe und Ereignisse - entfernen wir die Zeit wieder, wird das Wesentliche, das hinter den Formen stand und sich in ihnen verdichtete, wieder sichtbar.

Wenn man dann genauer hinschaut, sieht man, daß letzten Endes das Potential der Wandlung immer und überall präsent ist und die Menschen zur Beweglichkeit bewegen könnte. Jedoch behindern festgefügte Selbst-Bilder und Denkmuster die Entfaltung dieser Kraft. Hinter vordergründig scheinbarer Veränderung hängen die Menschen doch an ihren Konstrukten, als garantierten sie ihr Leben. Und vielleicht ist das ja auch so.  Man könnte also fragen: Wie kommt das, daß das so ist? Wie ist denn das für die Person, die sich hier und jetzt mit ihren Selbst- Konzepten, ihrem Dasein, ihrem leiblichen So-Sein auseinandersetzt? Welche Geschichten erzählt sie? 

So kann die Arbeit in der Situation mit Konzentration auf diesen Augenblick, auf dieses zeitliche, räumliche und persönliche Hier und Jetzt eine leiblich greifbare Wahrnehmung des stets fließenden Daseins fördern, immer vorausgesetzt, daß die Beteiligten ihre Leibpräsenz kommunizieren bzw. lernen, eine Sprache zu entwickeln, um sie kommunizieren zu können. Einerseits scheint das Ich ein immer Suchendes und dadurch Rastloses zu sein; es  fürchtet und ersehnt die Wandlung und erstarrt in Furcht vor dem Unkontrollierbaren. Andererseits ist es aber immer auf der Suche nach umfassenderer Gestaltung seiner Situation und leiblich auf der zuversichtlichen Suche nach Räumen, die seiner Entfaltung dienen könnten.

Das sind Suchbewegungen, die in Krisen hineinführen können und ein tiefergehendes Lernen jenseits aller kognitiven Erkenntnisse erst möglich machen. Das ist die potentielle Energie der Wandlung, die sich dann bemerkbar macht, wenn die Krise nicht mehr um jeden Preis (meist um der Erhaltung vermeintlicher Sicherheit willen) vermieden werden muß.

Solche Suchprozesse könnte man auch mit dem Auffinden noch unbewohnter leiblicher Innenräume vergleichen, auf die man auch durch Resonanzphänomene (oder Symptome) von außen und innen aufmerksam (gemacht) werden kann. Finden sie Hier und Jetzt über das Gespür hinaus Gehör und sinnvoll verstandenen Ausdruck (Kommunikation und Deutung), können sie als Resonanz wiederum sinnstiftend in die Welt gelangen.

Das Symptom ist also gesund. Es ist die somatische Verdichtung dessen, was unser Bewußtsein auszuschließen versucht. Es bringt uns dazu, das freiwillig nicht gelebte Prinzip dennoch zu verwirklichen und bringt den Menschen somit wieder ins Gleichgewicht.
 


aus: www.situationsdynamik.de, 2011  

Christiane Schmidt, Supervisorin (SD), Trainerin (SD)